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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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sich nach unten zu lassen, schob sich der am Holm verhakte Stoff nach oben, zuerst über die Schenkel und den Hintern, und rollte sich dann wie eine Wurst über die Hüfte. Manch einer wäre spätestens jetzt verzweifelt, George Lincoln jedoch fand die Situation zunehmend erheiternd.
    Was, wenn dich jemand so sieht?, dachte er belustigt.
    Er musste kichern, aber das Lachen blieb ihm beinahe im Hals stecken. Im Schein der Straßenlaterne sah er zwei Männer stehen, die zu ihm heraufstarrten.
    »Was soll das werden?«, hörte er den einen fragen.
    »Keine Ahnung!«, kam die Antwort.
    Offensichtlich gebannt verfolgten die beiden das Schauspiel, rührten sich nicht vom Fleck. So etwas sah man ja nicht alle Tage: Da hing ein untersetzter, nicht mehr ganz junger Herr mit entblößtem Unterleib mitten in der Nacht in einem hell erleuchteten Fenster, das Gemächt deutlich erkennbar, zog sich ein Stück in die Höhe, zappelte herum, rutschte wieder zurück und begann das Ganze von vorn.
    »Ein Exhibitionist!«, mutmaßte der Größere der beiden.
    »Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«
    »Ach Quatsch!«, entgegnete der andere. »Ist ja niemand da und wie es aussieht, turnt der da schon länger herum.«
    Oben kämpfte Burr mittlerweile mit dem Mut der
    Verzweiflung.
    »Was macht er denn jetzt?«, hörte er von unten eine entgeisterte Stimme, als er sich ruckartig abließ.
    Der Mantel schob sich über den Brustkorb, weiter über seinen Hals und wickelte sich wie ein Turban um seinen Schädel. George Lincoln hatte nun zwar die Arme frei, doch der Stoff hatte sich zu einem Knäuel verdichtet, der aussah wie ein überdimensionierter Knödel, und fixierte seinen Kopf im Oberlicht wie in einem Schraubstock. Das Schlimme dabei war: Er sah nichts. Seine Füße scharrten über das Fensterbrett, fanden dort Halt. Irgendwann erwischte er den richtigen Zipfel und begann seinen Kopf auszuwickeln. Die zwei späten Spaziergänger standen immer noch mit offenem Mund unter der Laterne, beobachteten verwirrt den nunmehr
    splitternackten Mann. Nach seiner endgültigen Befreiung sprang Burr auf den Boden, zog die Vorhänge zu, setzte sich auf die Bettkante und lachte, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.
    Am nächsten Morgen begegnete er Mister Parker, dem Hausmeister.
    »Haben Sie heute Nacht etwas bemerkt?«, fragte dieser aufgeregt.
    »Wieso, was ist passiert?«
    »Ein Mann soll splitterfasernackt an einem Fenster hier im Haus herumgeturnt haben!«
    »Unglaublich«, antwortete Burr mit ernstem Gesicht, »die Sitten verwildern zusehends!«
    »Da haben Sie Recht!«, pflichtete ihm Mister Parker ebenso ernst bei.

    Zurück in Ithaca, musste er einige Tage allein zurechtkommen.
    Sandy war wie vereinbart während seiner Abwesenheit zu ihren Eltern nach Virginia gereist. Für George Lincoln war es ein sonderbares Gefühl, als er die Tür zur Wohnung aufschloss. Alles war irgendwie leer, kalt – und still. Auf dem Tischchen im Flur war eine Pappe aufgestellt, davor lag eine getrocknete Rose.
    »Willkommen zu Hause!«, stand vorn auf dem Karton – und auf der Rückseite: »Jock, ich liebe dich!«
    Burr lächelte. Und ich dich erst!, dachte er.
    Unter dem Briefschlitz hatte sich ein Berg Post angehäuft, den er auf eine aufgeschlagene Zeitung schaufelte und ins Wohnzimmer trug. Eine Einladung zu einem Kongress der Amerikanischen Historiker-Vereinigung war dabei, das Rote Kreuz kündigte seine Jahrestagung an, einer der Studenten bedankte sich für eine Empfehlung; er habe die Stelle als städtischer Archivar in Romsville, wo immer das sein mochte, bekommen.
    Es war schon später Nachmittag, als George Lincoln sein Fahrrad unter dem Vordach hinter dem Haus hervorholte.
    Fahrradfahren war eine seiner neueren Leidenschaften. Mit Schwung kurvte er um die Ecke zur Bibliothek, als ihm Morse Stephens über den Weg lief. Sein Oberlippenbärtchen war exakt gestutzt wie immer.
    »Wir haben es schon vernommen, ich meine, das mit Chicago! Gratulation!«
    Er blieb stehen und besah Burr von oben bis unten, so wie man ein Bild, eine Statue oder ein Kunstwerk betrachtet.
    »Was hast du? Stimmt etwas nicht?«
    »Nein, nein!«, lachte Stephens. »Es ist nur so – die Ehe scheint dir wirklich zu bekommen. Jedenfalls siehst du um fünfzehn Jahre jünger aus!«
    »Kommt vom Fahrradfahren!«, antwortete George Lincoln und grinste.
    »Willst du wirklich noch da hinein?«, wollte Stephens wissen und deutete mit dem Daumen über die Schulter

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