Die Liebe am Nachmittag
Fünfzigjährige mit nackter Oberlippe, die wie Kinder aussehen. Manch einer präferiert auch eine Halb-Halb-Lösung, lässt sich den ergrauten Bart nicht wegrasieren, sondern nur ganz kurz stutzen; andere tragen ihn gnadenlos schmal getrimmt, sodass die Silberstacheln über ihrem Mund gerade noch als ein schmaler Strich schimmern. Selbst schwarzbärtige Herren haben diese Gewohnheit angenommen, sodass von ihrem Bärtchen nicht mehr übrig bleibt als ein Augenbrauenstrich, wie ihn dieDame von heute statt Augenbrauen trägt. Man will damit jünger aussehen, schneidiger, eleganter.
Manchen Damen ist ebenfalls anzusehen, dass sie sich den über ihren Lippen aufkeimenden Flaum rasieren; wenn sie aber auf diese Prozedur verzichten würden, ach was gäbe das für ein keckes Husarenbärtchen. Ihr Glück, dass sie im Allgemeinen mit Bärten nicht so viel im Sinne haben,sonst müssten sie sich diese ja auch wie ihre Haare kräuseln, nach der Mode schneiden, rot oder gelb färben lassen und auch mit ihrem Bärtchen lügen und täuschen.
Doch ich befasse mich mit den Herren, sie studiere ich gerade.
Es gibt sechzigjährige Herren, denen sind zwar da und dort kleine Haarinseln auf ihrem Kopf erhalten geblieben, doch lassen sie sich den Schädel wie ihre Physiognomie täglich glatt rasieren; manche gewinnen dadurch tatsächlich eine frische, rosarote Farbe wie ein Säugling, und das lässt sie zweifellos jünger erscheinen. Selbst fünfzigjährige Kavaliere schicken sich an, solche Köpfe zu tragen, sobald sie zu ergrauen beginnen, vor allem wenn sie schon fast kahl sind oder ihr Haupt bereits wie ein verlotterter Boxcalflederschuh schimmert; ja es gibt sogar Vierziger, die einen glänzend-glatten Schädel dem Haarschneiden oder dem diskret Nach-hinten- oder Nach-vorn-Kämmen ihrer Resthaare vorziehen. Ein gewisser vornehmer Herr von vierzig Jahren, der so einen apfelglatten Scheitel hat, berichtet wiederholt und begeistert, dass schon im alten Rom die edlen Jünglinge sämtlich mit glatt rasierten Häuptern gingen und jegliche Kopfbehaarung für barbarisch hielten, was sie natürlich auch ist, sagt er, wie von unserem Antlitz sollten wir auch vom Kopf den Wildwuchs entfernen.
Und ich fange an zu registrieren, was ich früher übersehen habe, dass nämlich der eine oder andere mir bekannte Herr, der sich den Fünfzig nähert, mit einem dickeren Spazierstockauf das neue Jahrzehnt zusteuert, als er ihn im Anmarsch auf die Vierzig benutzt hat. Stabiler werden auch die Utensilien, das gehört sich so. Selbst die Kopfbedeckungen erscheinen mir von Mal zu Mal bedeutender; manche von ihnen tragen wuchtige steife Hüte wie ein Geistlicher in Zivil, selbst die weichen Grauen wirken eher steif als weich, ja sogar gewölbt und steif; auch die Farben werden ernster, um nicht zu sagen düster; wahrscheinlich alles wegen der Würde. Bei anderen Herren um oder über fünfzig wiederum stelle ich auch das Gegenteil fest; sie werden rassiger, führen bleistiftdünne Spazierstöckchen aus und lassen ihre Einstecktücher weit aus der Zigarrentasche baumeln; setzen sich keck einen schmalkrempigen braunen Hut aufs Haupt, klappen dessen rechten Rand sogar stutzerhaft nach unten; tragen auffallende Socken und Übergangsmäntel, so weich und creme- bis rosafarben, wie man sie oft bei Operettenbuffos sieht.
Ihr Damen, wenn ihr mich doch einmal zum Schneider begleiten wolltet, um dort die Herren zu sehen, wie sie ihre Anzugstoffe in Blau, in Grau und Beige mustern und selektieren, nicht anders als ihr, wenn der Handlungsgehilfe in der Wienergasse die Tuchballen vor euch abrollt und die Stoffe ausbreitet; es würde euch amüsieren, wie die Herren mit ihrem Schneider beratschlagen, über Farbnuancen philosophieren, sich die Ballen ans Fenster schleppen lassen, die Qualität des Stoffes prüfen, sein Gewicht abschätzen und erwägen, ob wohl der weiße oder der grüne Streifen in tiefem Blau jugendlicher und eleganter wirkt, ob das herbstliche Beige genügend foncé ist, denn allzu Helles schickt sich doch nicht mehr für sie; auf Distanz gehen sie aber auch zu allzu Dunklem, denn das macht sie, um Gottes willen, älter als sie sind; wichtig ist natürlich auch, welche Farbe ihnen besser zu Gesicht steht, zu ihrem Teint passt; korpulente Onkels ziehen Längsgestreiftes vor, das schlanker macht. Wenn ihr den Politiker sehen könntet – dessen dramatische Erklärung über denVerfall des ungarischen Volkscharakters ihr vernommen habt oder haben könntet
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