Die Liebe am Nachmittag
die ganz langsam gehen, vor sich einen Punkt auf dem Gehsteig anpeilen und hinter sich von diesem Punkt aus eine lange Linie ziehen wie ein auf dem Wasser fahrendes Schiff? Oder solche, die ihr Stöckchen eingehakt auf der Schulter tragen oder es hinter sich über den Boden schleifen, als hätten sie vergessen, dass sie es in der Hand halten, oder die unentschlossen mit dem Stöckchen herumfuchteln. Mit der Stock- oder Schirmspitze irgendein Stück Abfall aus dem Weg schieben, ein Blatt, einen Fahrschein oder eine Streichholzschachtel aufspießen, und zwar so, als täten sie es von Amts wegen: Wo sind sie wohl inzwischen mit ihren Gedanken? Sie hören keine Straßenbahn, sehen nicht in die blendend erleuchteten Auslagen; als wären sie Schlafwandler, als hätten sie ihren Namen und die Welt vergessen, als würden nur die Schuhe ihre schwerfällige Physis tragen und als wäre ihnen ihre Seele wie auch das Ziel abhanden gekommen. Vielleicht formuliert dieser Mensch gerade im Stillen seinen Abschiedsbrief, weil er aus dem Leben scheiden will. Ein anderer sinnt über seine Missetaten nach, niemand weiß, dass er ein Gauner, ein Betrüger,ein Kautionsschwindler ist,das wird erst morgen,über morgen ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Der dritte lässt sich gerade scheiden, weil ihn seine Frau betrogen hat, und er blättert nun in den Kapiteln seines Glücks und der Enttäuschung; oder er trennt sich gar nicht von seiner Frau, steht weiter unerschütterlich zu ihr, und wie zwei Gifte, die wehtun und an ihm nagen, werden ihm die Schande und die Liebe jetzt und immerfort ins Herz geträufelt; oder er ist auf dem Heimweg, der ihn in eine Wohnung führt, in die einzutreten ihm allabendlich Qualen bereitet, er wohnt dort mit seiner Todfeindin, die er nicht loswerden kann und die zu erwürgen er nicht den Mut aufbringt, unter einem Dach. In dem vierten, der wie ein Toter vor sich hinschreitet, tobt ein Lärm wie in der französischen Nationalversammlung; sein Gewissen,seine Eitelkeit, seine Ehre verlangen von ihm Satisfaktion. Manche bedienen sich einer hilflosen Geste, andere riskieren einen halblauten Satz, als führten sie Selbstgespräche; ein wenig ängstlich betrachtet man solch einen monologisierenden Unbekannten; vielleicht kommt er vom Amtsgericht,wo man ihm Schweigen auferlegt hat, oder sein Vorgesetzter hat ihn gemaßregelt, oder er glaubt, er säße auf der Zuschauertribüne des Parlaments, von der er seine Meinung ins Plenum hinunterruft.
Was geht mir heute Abend durch den Kopf, während ich mit hängendem Kopf die Ringstraße entlangschlendere, so langsam, als hätte mich die Hitze völlig entkräftet; dabei ist Mai und ein schöner, wohliger Abend, die Kaffeehausgäste sitzen so zahlreich auf den Terrassen und auf dem Trottoir vor den Lokalen wie an Feiertagen, ganz so als warteten sie auf einen Festumzug. Vor einer Stunde hatte ich mich von 5Fleurs verabschiedet, die heute mit dreiviertelstündiger Verspätung gekommen ist; und in einer Stunde treffe ich mich mit Iboly, ich habe versproche, heute mit ihr zum Abendessen zu gehen. Worüber sinne ich nach, während ich übers Trottoir schlendere, über alles und nichts. Wie Wellen auf dem Wasser, die sich ringförmig ausbreiten, wogen mir die Gedanken im Kopf oder gar nicht im Kopf; und man empfindet dieses kreisförmige Denken so, als ginge es, zusammen mit einem selbst, unter dem Asphalt mit.
Irgendeine Lüge schleppe ich mit mir herum: Die Dame weiß nichts von diesem Mädchen, hoffe ich, und auch das Mädchen hat keine Ahnung von der Dame. Ich verschweige der einen die andere; es wäre eine Gemeinheit von mir, ihnen gegenüber auch nur eine Andeutung zu machen. Doch dieses Verschweigen, verstößt es nicht gegen die Ehre? Es ist Mai, Mai, und ich kann mein Herz, das nur noch so klein wie Rest-Ungarn ist, ich kann dieses reduzierte Herz nicht einer schenken. Mein Gott, ein so schöner Abend, wie wunderbar wärees, mit diesem treuen kleinen Mädchen an Deck der Sophie zu gehen, denn dieser Ausflugsdampfer fährt schon wieder auf der Donau, der Musik zu lauschen, sich hinter Neu-Pest mit Blick auf das begrünte Ufer über die Reling zu lehnen und zu raten, wo wir schon sind, ihr, den Arm um ihre Mitte, ins Ohr zu hauchen: du mein kleines Ein und Alles. Oder mich mit der 5Fleurs, wenn sie wirklich mir gehören würde, und zwar mir allein, an die Uferpromenade zu setzen oder in ein Restaurant auf der Insel, stolz zu sein auf diese Frau, die so elegant ist, nach
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