Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Kuhle, die zum Sitzen einlud. Vorsichtig nahm Dora darauf Platz. Gedankenverloren bohrte sie ihre Fingernägel in die tiefen, harten Furchen der Rinde, schälte winzige Stücke von der Kruste ab. Ein bräunlich schimmernder Käfer kroch heraus, krabbelte über ihren Handrücken, verschwand wieder in den Untiefen des Holzes. Ein buntgefiederter Erpel stattete ihr einen neugierigen Besuch ab, watschelte unschlüssig vor ihren Füßen herum und legte den blau-grün gefiederten Kopf mit dem weißen Strich an der Kehle schief. Als sie sich ungeschickt bewegte, kehrte er empört schnatternd zu seiner Entenfamilie ins Wasser zurück.
Nachdenklich sah Dora ihm nach, schmunzelte beim Anblick der pelzig gefiederten Entenkinder, die sich um den blau glänzenden, stolz emporgereckten Kopf des Familienoberhaupts scharten. Unwillkürlich glitt ihre Hand zu ihrem Unterleib, strich zärtlich über die leichte Wölbung, die sich immer deutlicher unter den Falten des Rocks abzeichnete. Allmählich wurde zur Gewissheit, was sie sich so lange innig gewünscht hatte – sie trug ein Kind unter dem Herzen! Seit dem Überfall beim Wald der tanzenden Bäume aber war ihre Freude gedämpft. Zu groß war ihre Ungewissheit, wie Urban die Nachricht aufnehmen würde. Würde er das Leben seines Kindes ebenso bedingungslos seinem Treueschwur gegenüber dem Herzog unterordnen wie ihres? Was, wenn sie einen gesunden Sohn gebar, wie ihn sich das Herzogpaar seit mehr als zwei Jahrzehnten ersehnte?
Sie schloss die Augen. Sogleich hatte sie Veits Antlitz im Sinn. Was würde er dazu sagen? Sie erinnerte sich an das Gespräch Anfang der Woche, dachte an das tiefe Einverständnis, das nicht zum ersten Mal zwischen ihnen aufgeflammt war. Musste er die Nachricht von ihrer Schwangerschaft nicht wie einen Verrat empfinden? Erschrocken riss sie die Augen wieder auf. Ihre Schwangerschaft ging ihn gar nichts an! Sie war Urbans Frau, er war der Vater ihres Kindes. Ein für alle Mal musste sie den Traum von Veit aus ihren Gedanken verbannen. Je beharrlicher sie das versuchte, je tiefer aber brannte sich das Bild in ihrem Kopf ein.
Vom Kirchturm schlug es elf. Höchste Zeit, zur Baustelle zu gehen. Es fiel auf, wenn sie zu lange für das kurze Stück unterwegs war. Schweren Herzens erhob sie sich, strich noch einmal über die Zweige der Eiche und kehrte zurück ins rege Treiben vor dem Schlossgraben.
Wie an jedem Werktag waren viele Handwerker, Händler und Bauern unterwegs. Die meisten wollten entweder durch das Tor in der Stadtmauer ins Schloss hinüber oder den Mühlenberg hinunter in die Altstadt. Dora war eine der wenigen, die sich nach rechts zur Burgfreiheit wandten. Geduldig ließ sie ein langes Fuhrwerk mit Holzbalken passieren, das von zwei stämmigen Ochsen gezogen wurde. Zwischen einem Mann mit einem schweren Sack über der Schulter und einem Jungen, der eine störrische weiße Ziege am Halsband neben sich herzog, schlüpfte sie auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ein altes Mütterchen pries streng duftende Kräuter an, zwei hochaufgeschossene Landsknechte stießen sie brüsk beiseite. Fassungslos ob dieser unnötigen Grobheit, sah Dora den beiden nach, wie sie durch das Tor im Gewühl vor dem nahen Marstall untertauchten. Das Gedränge war zu dicht, um lange stehen zu bleiben. Schon wurde sie in westliche Richtung fortgerissen. Der Lärm nahm zu. Von der ewigen Baustelle am Schloss drangen kräftiges Hämmern und Klopfen über den breiten Graben herüber, dazwischen tönten Rufe der Zimmerleute und Maurer, die sich über das weitere Vorgehen verständigten. Ein lautes Poltern ließ Dora zusammenzucken. Als sie nach links hinübersah, winkte ein Steinmetzgeselle von einem Gerüst um den Haberturm. »Nichts weiter passiert«, rief er, kletterte flink die Leiter herunter und betrachtete den Steinquader, der beim Aufprall entzweigebrochen war. Zum Glück war er auf den Boden des Grabens gefallen und hatte weder eines der dort gehaltenen Schweine noch sonst wen getroffen. Unter der Wucht seines Aufpralls wäre jegliches Leben zermalmt worden.
Der achteckige Haberturm an der nordöstlichen Ecke der Schlossanlage ragte weithin mahnend in den grauen Wolkenhimmel. Sein grob behauener Backstein ließ jeglichen Glanz vermissen. Überhaupt schien Dora auf einmal die lange Backsteinmauer des Nordflügels mit den verschieden hoch aufragenden Gebäuden und den willkürlich aneinandergereihten Dächern mal mit, mal ohne Gauben, mal mit, mal ohne Türmchen
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