Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
umsonst gewesen. Das aber wollte sie Johanna gegenüber später nie eingestehen müssen. Während sie versuchte, sich ganz auf ihr Kind zu besinnen, reifte jedoch noch eine weitere Erkenntnis in ihr. Veit wäre für immer für sie verloren, wenn sie die wahren Umstände um Urbans Tod und die Zusammenhänge mit seiner Nürnberger Zeit nicht aufdeckte.
Immer schneller trieb die Angst sie vorwärts. Kaum nahm sie wahr, dass sie längst die Andreas- und kurz darauf auch schon die Martinskirche passiert hatte. Linker Hand rückte die bescheidene Ägidiuskirche in den Blick, bevor sich rechter Hand der imposante Bau des Zeughauses aus dem letzten Dunkel der Nacht herausschälte. Finster blickten Dora die Wachleute vom Tor entgegen.
»Stój!«, rief der eine und stellte sich ihr breitbeinig in den Weg. Grimmig schaute er sie an. »Dokąd ci się tak spieszy?«
»Bitte?«, fragte sie betont höflich, obwohl sie verstanden hatte, was er gefragt hatte.
Ein zweiter Wachmann kam hinzu und flüsterte dem ersten etwas auf Polnisch ins Ohr. Der nickte bloß, woraufhin der Zweite sie auf Deutsch fragte: »Wohin wollt Ihr so eilig? Die Tore öffnen gerade erst.«
»Ich möchte nach Kazimierz. Dort werde ich von Verwandten erwartet.«
Ob der Lüge schlug ihr Herz heftig. Insgeheim bat sie Gott um Verzeihung. Eine ehrliche Antwort hätte sie in arge Bedrängnis gebracht. Was sollten die Wachleute auch von einer Frau ihres Alters halten, die im ersten Morgengrauen einen Bekannten und dessen Vater vor den Toren der Stadt aufsuchte? Bang sah sie die beiden Wachen an, wusste, dass sich im nächsten Augenblick ihr weiteres Schicksal entschied. Die Wachmänner trugen Sturmhauben auf dem Kopf, deren blankpolierter Stahl das erste Tageslicht spiegelte. Der größte Teil ihrer Gesichter verschwand unter dem Schatten des breiten Augenschirms. In der rechten Hand hielten sie die Piken, in der linken ein rundes Schild. Brust und Rücken waren mit einem Panzer geschützt, deutlich sichtbar trugen sie ein Schwert am Gürtel. Viel zu lang steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten, als gälte es, den Abmarsch in eine Schlacht zu beraten. Dora wurde mulmig. Hatten sie wirklich verstanden, was sie gesagt hatte? Wie töricht von ihr zu glauben, jedermann in Krakau wäre des Deutschen mächtig. Sie war leichtsinnig geworden, nachdem sie bei den Wirtsleuten wie auch bei Steinhaus’ Gefährten auf keinerlei Schwierigkeiten gestoßen war. Die wenigen Worte Polnisch, die Szymon ihr zu Hause während der langen Stunden am Sudkessel beigebracht hatte, reichten kaum aus, ihre Absichten zu formulieren. Andererseits hatte Stanisław Podski erklärt, die Stadtregierung habe Deutsch zu ihrer Amtssprache gewählt. Also sollten die meisten Bewohner Deutsch richtig verstehen, insbesondere die Wachleute an den Toren.
»Seid vorsichtig«, erlöste der eine Wachmann sie endlich. »Ihr wisst, welches Gesindel sich in der letzten Dämmerung draußen vor den Mauern herumtreibt. Wohin genau müsst Ihr in Kazimierz? Kennt Ihr den Weg?« Sie verneinte, fragte nach der Josefsgasse und war froh, dass er ihr daraufhin den Weg ausführlich beschrieb. »Es ist wirklich nicht schwer zu finden«, versicherte er abschließend. Sie dankte es mit einem Lächeln. Übermütig tippte er mit der Linken an den Helm, sein Kumpan tat es ihm nach. Damit gaben sie ihr den Weg frei. Sie beeilte sich, rasch zum Stadttor zu gelangen. Dort war sie die Erste, die man hinausließ.
Kazimierz schloss sich fast nahtlos an die Wiesen vor der Stadtmauer an. Eine der Krakauer Befestigung in Wehrhaftigkeit und Größe kaum nachstehende Mauer umgab die Stadt. Vor den Toren drängten sich Händler und Bauersleute, die mit ihren Waren zum Markt wollten. Dora musste nicht lange warten, um hineinzugelangen.
Wie die meisten anderen hielt sie sich zunächst in Richtung Marktplatz, der von einem hohen Rathausturm beherrscht wurde. Weithin sichtbar ragte er in den Himmel. Die Zeiger an der riesigen Uhr glänzten im frühen Morgenlicht. Endlich hatte die aufgehende Sonne die Dämmerung besiegt. Letzte blaurote Wolkenschlieren zogen über das Firmament, das sich golden färbte. Bald schon würde ein strahlend schöner, warmer Sommertag die Menschen den Regen der vergangenen Tage vergessen lassen. Neugierig schaute Dora sich um.
Auf den ersten Blick wirkte Kazimierz nicht anders als andere Städte. Die gepflasterte, gut anderthalb Wagen breite Hauptstraße verlief zunächst etwas abschüssig, rechts und
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