Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
zu gehen. Der immer noch geschwächte linke Arm hing schlaff an der Seite hinunter, mit dem rechten kreiste er aufgeregt durch die Luft, um die Wirkung des Gesagten zu untermalen.
Dora konnte sich dem Reiz seiner Ausführungen schwerlich entziehen und trat ebenfalls hinter dem Tisch hervor. Die eben noch gescheute Nähe wuchs zu einer unstillbaren Sehnsucht. Auf einmal wollte sie ihn mit allen Sinnen fassen, ihn nicht nur hören, sondern auch fühlen, riechen und schmecken, eben so, wie er es auch von der wahren Baukunst lehrte. Schließlich sprach er ihr aus der Seele. Beim Bau des Hauses an der Junkergasse verstand sie es als ihr innigstes Anliegen, zu zeigen, wer sich als Bauherr hinter den Steinen und Fenstern verbarg. Ähnlich wie Veit es gerade formulierte, hatte auch Urahn Laurenz in seinem Werkmeisterbuch davon geschrieben, das Haus solle das Spiegelbild von Stellung und Wesen seines Besitzers werden. An mannigfaltigen Beispielen, die ihm im Lauf seiner Wanderjahre vertraut geworden waren, hatte er das aufgezeigt. Für Dora war es zum Leitsatz des eigenen Schaffens geworden. Die mangelnde praktische Erfahrung musste sie mit noch emsigerem Bücherstudium wettmachen. Sie stutzte, gewahrte mit klopfendem Herzen eine überraschende Übereinstimmung zwischen Ahn Laurenz und Veit. Dabei war es unmöglich, dass Veit das Buch einmal in Händen gehalten und darin gelesen hatte. Seit der Vater im Haus weilte, bewahrte sie es in ihrem Schlafgemach auf, wagte nur noch selten, es in die Werkstatt mitzunehmen. Zu groß war die Angst, es unbeabsichtigt liegen zu lassen und damit dem Vater wieder in die Hände zu spielen. Auch wenn Urban es ihm teuer bezahlt hatte, traute sie dem Vater zu, es ihr unter einem fadenscheinigen Vorwand wieder wegzunehmen und dann für immer vor ihr zu verbergen.
»Als Steinmetz darf man sich ebenso wenig wie als Baumeister jemals satt zurücklehnen und sich der kühnen Vorstellung hingeben, ein für alle Mal Bescheid zu wissen, wie das Bauen vonstattengeht«, fuhr Veit fort. »Wer sich mit dem Erreichten zufriedengibt, hat das wahre Wesen der Baukunst nicht verstanden. Stets gilt es, die Augen offen zu halten und durch die Lande zu ziehen, um neue Anregungen in sich aufzusaugen wie ein Schwamm. Ein Baumeister wie auch ein Steinmetz können schwerlich jemals sesshaft werden, sich träge auf dem ausruhen, was sie gelernt und daraus geschaffen haben.«
Vor dem Regal mit Büchern und gerollten Plänen blieb er stehen, studierte die Rückenschilder, bevor er sich langsam zu ihr umdrehte und den Blick ihrer verschiedenfarbigen Augen suchte. Das Schweigen zwischen ihnen entwickelte sich zu einer gefährlichen Mischung aus Anspannung, unbändigem Verlangen und dem verzweifelten Versuch, vernünftig zu bleiben.
»Als Mann habt Ihr leicht reden«, ergriff Dora endlich das Wort und knetete angespannt ihre eiskalten, steif gewordenen Finger. »Für Euch ist das Umherreisen und Studieren fremder Städte eine Selbstverständlichkeit. Wie aber soll ich als Frau zu diesen Eindrücken anders als durch das Bücherstudium gelangen? Niemals ist mir gestattet, mich zu Studienzwecken auf große Wanderschaft zu begeben. Mein Lebtag bleibe ich auf die Aufzeichnungen und Schilderungen anderer angewiesen, werde kaum je auch nur annähernd den Stand der Kunst erreichen, den ein Knecht in seinen ersten Jahren bei seinem Meister erlangt.« Sie hielt inne, blickte zu Boden, musterte die Maserung der von der Sonne grau gewordenen Holzdielen. »Am besten, ich lasse es gleich sein«, setzte sie leise nach. »Es war ein Traum, ein sehr schöner Traum sogar. Das Lob meines Gemahls hat mich glatt vergessen lassen, dass all meine Kunst auf dem Studium eines einzigen Werkmeisterbuches und dem Betrachten einiger in den Königsberger Städten umgesetzter Entwürfe besteht. Natürlich habt Ihr recht. Sich damit zufriedenzugeben wäre ein Verrat an der wahren Baukunst. Davon schreibt auch mein Lehrmeister, Urahn Laurenz Selege. Auch er ist der Ansicht, ein Baumeister müsse die Seele des Bauherrn in der Gestaltung des Gebäudes erfahrbar machen. Dazu aber muss er wissen, wie er der Seele auf den Grund geht und welche Möglichkeiten es gibt, das in Stein und Ziegel umzusetzen. Wie anders als in der Begegnung mit den verschiedensten Seelen in den unterschiedlichsten Städten kann er das erfahren? Ein Buch und eine Stadt allein reichen dazu einfach nicht aus.«
Ihre Stimme zitterte. Kaum wagte sie, Veit anzusehen. Er machte einen
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