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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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strich sie ihn über den Schultern glatt. Besteck- und Nadeldose klirrten gegeneinander, als sie sich den ledernen Gürtel um die Hüften band. Kurz stutzte sie, tastete nach dem Schlüsselbund. Wahrscheinlich hatte sie ihn am Vorabend in ihrer Werkstatt im zweiten Obergeschoss liegenlassen. Gleich nach dem Auslöffeln der Suppe musste sie ihn holen, bevor Base Mathilda das bemerkte und über ihre Nachlässigkeit missbilligend die Stirn runzelte.
    Sie stellte sich vor den Spiegel und kämmte das wellige dunkelblonde Haar. Längst störten sie ihre verschiedenfarbigen Augen kaum mehr. Anders als der Vater ihr einst eingeredet hatte, sagte ihr deretwegen niemand etwas Böses nach. Urban schätzte den besonderen Blick, den sie damit auf die Welt richtete. Die Augen standen etwas weiter auseinander als üblich, was die Eigenart noch stärker hervorhob. In wenigen Handgriffen flocht sie die Haare zu einem Zopf und steckte sie auf dem Kopf fest, bevor sie die Bundhaube aufsetzte und mit drei Klammern fixierte. Prüfend betrachtete sie ihr Antlitz, fuhr mit angefeuchteter Fingerspitze die fein geschwungenen Augenbrauen nach und kniff sich in die Wangen, um ihnen zu etwas mehr Röte zu verhelfen. Die Lippen brachte sie mit Spucke zum Glänzen. Schwungvoll tippte sie mit dem Finger gegen die leicht nach oben gebogene Nasenspitze. Fehlten nur die Sommersprossen wie bei ihrem jüngeren Bruder Lienhart.
    Schon wollte sie nach draußen hasten, da verharrte sie noch einmal vor dem Fenster, das zum nahen Schlossteich hinter der nördlichen Stadtmauer zeigte. In einem Gebüsch nah vor dem Fenster reckte ein Rotschwanz sein weiß bestirntes Köpfchen in die Lüfte und trällerte ein erstes Frühlingslied. Seine gelbroten Brustfedern schimmerten, der lange Schwanz zitterte. Freudig gesellte sich ein hellbraun gefiedertes Weibchen hinzu, stimmte in seinen Gesang mit ein. Das traute Miteinander der Vögel weckte in Dora die Erinnerung an ihren Traum. Ein Unbekannter war ihr darin erschienen. Je länger sie an ihn dachte, je mehr war ihr, als hätte sie die Begegnung mit ihm tatsächlich erlebt, hätte ebenso einträchtig wie das Rotschwanzpärchen mit ihm zusammengesessen und unbefangen mit ihm gescherzt. Bei der Vorstellung, ihn nah bei sich zu haben, seinen Duft zu riechen, seine zufälligen Berührungen zu spüren, stieg brennendes Verlangen in ihr auf.
    War sie von Sinnen? Jäh fuhr ihr ein Stich durch die Brust. Wie hatte sie vorhin auch nur im Entferntesten daran denken können, Urban von diesem Traum zu erzählen? Ihre Wangen begannen zu glühen. Ihren Gemahl würde es schmerzen zu erfahren, dass seine um fast dreißig Jahre jüngere Frau von einem fast ebenso viele Jahre jüngeren Fremden träumte.
    Wieder trat ihr das nächtliche Bild vor Augen. Wie der Mann sie ansah, lächelte, ihr die Hände entgegenstreckte. Das Verlangen nach ihm wuchs ins Unermessliche. Am liebsten wollte sie sich auf der Stelle in seine Arme stürzen, das Gesicht an seiner Brust verbergen. Als fremd erschien er ihr nicht. Im Gegenteil. In seinem Gebaren lag etwas zutiefst Vertrautes. Vielleicht war es Urban in jungen Jahren?
    Der Gedanke gefiel ihr, ließ das Prickeln in ihrer Brust stärker werden. Wie oft verstand er es, trotz seiner weißen Haare und des ernsten Gesichts Verlangen in ihr zu wecken. Die letzte Nacht fiel ihr ein, die zärtlichen Umarmungen, mit denen er sie gehalten, die sanften Berührungen, mit denen er sie gestreichelt, das behutsame Begehren, mit dem er sie Kälte und Dunkelheit der Märznacht hatte vergessen lassen. Entrückt strichen ihre Fingerkuppen über die nackte Haut ihres Halses, glitten zum Ansatz der flachen Brüste hinunter, um im nächsten Moment abrupt innezuhalten. Das Wecken des Verlangens war das eine, das Stillen der Leidenschaft das andere. Plötzlich fühlte sie sich um etwas Wesentliches betrogen. Nicht zum ersten Mal in ihrer zweijährigen Ehe hatte sie die Nacht mit Urban zunächst als sehr verheißungsvoll, zuletzt aber doch als sehr unbefriedigend erlebt. Ihr Gemahl war viel zu vorsichtig, stets darauf bedacht, ihr nicht zu viel zuzumuten. Bittere Enttäuschung machte sich in ihr breit. Er hatte ihr einfach zu viel an Leben voraus. Wie gern hätte sie ihn in jungen Jahren gekannt. Gewiss hatte es ihn einst ebenso ungestüm wie sie danach verlangt, sich im nächtlichen Ehelager die geheimsten Lüste zu befriedigen. Wie eben der Mann aus ihrem Traum. Sie atmete auf. Das Begehren nach ihm war tatsächlich das

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