Die Liebe des Kartographen: Roman
hin, dass tief drinnen im Wald, dort, wo die Wipfel so eng zusammengewachsen waren, dass es auch am Tage dunkel blieb, Menschen lebten. Verfolgte, Verfemte, Freiheitsuchende, die keinem Herrn dienen wollten. Aber auch Tagdiebe, die ihre Zeit damit verbrachten, Reisenden auf ihrem Weg nach Ulm aufzulauern, um sie um ihr Hab und Gut zu bringen. Xelia schauderte. Nicht umsonst war das Stück StraÃe, das hier am Wald vorbeiführte, von den Reisenden gefürchtet. Jeder versuchte, so schnell wie möglich daran vorbeizukommen. Unglücklich war derjenige, dessen Pferd gerade hier zu lahmen begann oder dessen Fuhrwerk gerade hier einen Achsenbruch erlitt. Ein Glück, dass nie jemand versucht hatte, Samuel oder sie zu überfallen! Und doch hatten sie genau dieser Gefahren wegen letztendlich diesen Ort als ihren geheimen Treffpunkt ausgewählt. Nirgendwo sonst wären sie vor den Dorfbewohnern mit ihrer Neugiersicher gewesen. Xelia schaute auf. Das Tageslicht war schon einem schummrigen Grauschleier gewichen. Eigentlich hätte Samuel längst hier sein müssen. Wenn es dunkel wurde, musste sie wieder zu Hause sein, das wusste er. Was hielt ihn nur auf? Ein kleines Weilchen würde sie noch warten â¦
Langsam wurde sie immer unruhiger. Sie zwang sich, nach Zutaten für einen Schlaftee zu suchen. Sollte sie heute doch nochmals in die Gerberei zurückkehren, würde sie für Anna und Sybille einen Vorrat davon anlegen. Wenn man einen Becher Wasser mit drei Fingern von dem Kraut aufbrühte und noch einen Fingerbreit Branntwein dazugoss, schlief der Gerber kurze Zeit später selig davon ein, und man hatte seine Ruhe vor ihm. Sooft es ging, hatte Xelia Feltlin den Tee mit dem Hinweis verabreicht, er würde seinem Kreuzweh von innen her gut tun. Im Geiste sah sie zwar ihre Mutter missbilligend den Kopf schütteln, aber das war ihr gleich.
Sie hörte hinter sich das Knacken zertretener Ãste. Hastig drehte sie sich um. Samuel stand vor ihr. Sein Gesicht war so kreidebleich, dass es in der Nachtdämmerung wie von einer inneren Fackel beleuchtet wirkte.
Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach ihr. Seine Arme, die ihr immer stark und kräftig vorgekommen waren, zitterten, als seien sie halb erfroren.
Xelia spürte Angst in sich hochkriechen â schlimmer, als sie sie je gekannt hatte. »Was ist? So rede doch, Samuel! Sag, was ist geschehen?« War seine Mutter gestorben? War nun auch sein Vater krank? Oder er selbst? Sie würde ihm beistehen, was immer es auch war. Doch schon spürte sie einen kalten Luftzug an sich vorüberziehen, einen Hauch von Vorahnung, dass sie es war, die Hilfe benötigte.
»Es ist aus, Xelia«, sagte Samuel mit brüchiger Stimme. »Wir können uns nicht mehr treffen.«
Mit einer fahrigen Bewegung strich sich Xelia die losen Haare aus dem Gesicht. Sie hatte das Gefühl, als würde siealles, was um sie herum geschah, nur durch einen Schleier hören und sehen. Am liebsten hätte sie sich die weiÃblonden Strähnen ganz ausgerissen. Warum war Samuel so seltsam? Was redete er für einen Unsinn?
Samuel kauerte vor ihr auf dem Boden nieder. Er schien kleiner als sonst, sein Leib in der Mitte durchgebrochen zu sein. Er weinte hemmungslos und stammelte unverständliche Worte vor sich hin.
Es war dieses Weinen, das Xelia aus ihrer Versteinerung riss. Sie kniete sich ebenfalls hin und wollte ihn in die Arme nehmen. Immer wieder rief sie seinen Namen, doch er hörte sie gar nicht. Krampfhaft presste er seine Hände vors Gesicht und wiegte seinen Oberkörper hin und her, als sei er von allen guten Geistern verlassen.
Noch nie hatte sie einen Mann weinen sehen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas möglich war. Mädchen wie Sybille, ja, die weinten. Aber ein Mann? Was konnte so schlimm sein, dass es seine Schleusen öffnete? Xelia konnte sich nicht daran erinnern, wann sie die letzte Träne geweint hatte. Nicht einmal beim Tod ihrer Mutter war das gewesen. Viel zu wütend war sie damals mit Gott und der Welt. Was änderte sich schon zum Besseren, wenn man weinte?
âºNichts!â¹, schoss es ihr bitter durch den Sinn. Auf einmal war der Schleier vor ihren Augen fort, und sie sah alles so gestochen scharf wie an Tagen, an denen schlechtes Wetter drohte. Xelia schaute Samuel an â und sah einen Jungen vor sich, der nicht genug Kraft hatte.
»Du hast mit deinem Vater geredet.« Was
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