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Die Liebe des Kartographen: Roman

Die Liebe des Kartographen: Roman

Titel: Die Liebe des Kartographen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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lange hatte er darin allein das Sagen gehabt, ohne dass ihm ein anderer Grenzen gesetzt hätte. Er scharrte mit seinen schweren Lederstiefeln auf dem trockenen Waldboden. Außer diesem Geräusch war nichts zu hören. Die Stille raubte Xelia fast den Verstand. Warum schrie er sie nicht weiter an? Warum tobte er nicht? Oder verprügelte sie? So unauffällig wie möglich hob sie den Kopf und schaute zu Feltlin hinüber. Welche noch viel heimtückischere Strafe brütete er aus? Seine Hände zuckten, ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder, als wolle er sie im nächsten Moment damit erdrosseln. Xelia begann, um ihr Leben zu fürchten.
    Zeit verging. Stille. Nur schweres Atmen. Ihr Atmen.
    Es war schon fast völlig dunkel, als seine Stimme zu ihr drang. Worte, die rau klangen, so, als hätte der Sprecher versäumt, sich zuvor zu räuspern. »… in meinem Haus … brauchst nicht zu glauben, dass wir ohne deiner Hände Arbeit nicht auskommen …, täglicher Anblick … Schande … kein Verdacht auf die Gerberei fallen …«
    Feltlin sprach mit ihr! Endlich gelang es Xelia aufzuschauen. Sie musste sich zusammenreißen!
    Seine Augen waren kalt wie überfrorene Steine. Sein Mund war voller Abscheu verzogen. Fast beiläufig holte er mit seinem rechten Fuß aus, als wolle er nach ihr treten, und Xelia krümmte sich schutzsuchend zusammen. Dochder erwartete Schmerz blieb aus. Seine Stiefelspitze bohrte sich vor ihr in den Boden, der aufgewirbelte Staub brannte in ihren Augen, sie musste blinzeln. Als sei sie ein Straßenköter, den es davonzujagen galt, nicht mehr als einen verächtlichen Tritt wert, drehte er sich um. Über die Schulter hinweg schleuderte er ihr noch einen letzten Satz zu: »Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken! Sonst sorg’ ich dafür, dass du am Galgen hängen wirst!«

~ 12 ~
    X elia merkte nicht, wie das Gras unter ihr von Stunde zu Stunde feuchter wurde, bis der Morgentau jedes einzelne Hälmchen eingehüllt hatte. Sie merkte nicht, wie kleine Käfer und Schnecken, die noch vor der nahenden Hitze des nächsten Tages ein kühles Domizil finden mussten, über ihre nackten Füße krochen. Ihre Zähne klapperten in der Kälte der Morgenstunden aufeinander, und sie konnte nicht einmal ihre Jacke fester um sich schlingen. In stummer Totenwache verharrte sie bei Samuel, starrte unentwegt in sein lebloses Gesicht, auf dem das Blut zu dunklen Flecken erstarrt war.
    Der Gerber war vor langer Zeit gegangen, zurück in die Gerberei, zurück zu Anna und Sybille. Ihr Arm, den er ihr so grob verdreht hatte, schmerzte schon längst nicht mehr, doch seine Flüche klangen immer noch in ihren Ohren. »Lass dich nie wieder hier blicken! Verschwinde von hier! Sonst sorg’ ich dafür, dass du am Galgen hängen wirst!«
    Sie hörte seine Worte, immer und immer wieder, doch ihr Kopf konnte ihnen keine Bedeutung zuordnen. Es war nicht die Trauer um den Toten oder sein Anblick, der sie nicht mehr richtig denken ließ. Samuel war nicht der erste Tote, den Xelia sah. Auch bei ihrer Mutter war sie dabei gewesen, als es geschah.
    Etwas anderes raubte Xelia beinahe den Verstand: Was war aus ihren Träumen geworden? Wie konnte es sein, dass sich innerhalb weniger Stunden alles verändert hatte? Dass nichts mehr Bedeutung hatte, was zuvor so wichtig gewesen war?
    Schon einmal war in ihrem Leben das Gleiche passiert. Damals, als ihre Mutter gerade einmal vier Wochen tot gewesen war und sich der Gerber nachts auf ihr Lager geschlichen hatte. Den Mund hatte er ihr zugehalten und mit der anderen Hand ihre Beine auseinander geschoben, bis sein Leib dazwischenpasste. Xelia hatte keine Zeit gehabt zu schreien und auch nicht, sich dem stechenden Schmerz zu widmen, der sie durchfuhr, als er in sie eindrang. Sie war so damit beschäftigt gewesen, unter seiner nach Gerbsäure stinkenden Hand nach Luft zu schnappen, nicht zu ersticken, dass sie erst wieder zu Sinnen kam, als er sich von ihr hinunterwälzte. Tagelang war sie wie betrunken durchs Leben getorkelt, zu einem klaren Gedanken unfähig, als weigere sich ihr Geist, das Schreckliche, was geschehen war, anzuerkennen und zu verarbeiten. Dieselbe Regungslosigkeit lähmte sie auch jetzt und brachte sie in Gefahr, von jemandem aus dem Dorf bei der Leiche entdeckt zu werden.
    Die Sonne stieg als milchweißer Ball

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