Die Liebe des Kartographen: Roman
Winter zu verbringen.
Sich mitten am Tage im Wald sehen zu lassen hätte sie vor ein paar Wochen noch nicht gewagt. Doch mit jedem Tag, den sie länger im Wald verbrachte, war sie weniger ängstlich geworden.
Philip würde ihr fehlen. Schon der Gedanke, allein losziehen zu müssen, tat ihr weh. So eigentümlich die Umstände auch waren, die sie aneinander fesselten, so sehr hatte sie sich an ihn und seine Art gewöhnt. Manchmalhatte Xelia das Gefühl, sie würden von einer guten Fee, die hinter einem Baumstumpf wohnte, bewacht. Sie begann, ein Lied zu summen, doch mittendrin brach sie abrupt ab. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Welchen Grund hatte sie zu singen?!
»Xelia! Du!«
Sie schrak derart zusammen, dass ihr fast das Herz aus der Brust hüpfte. Da kam Anna auf sie zugelaufen! Bevor sie etwas sagen oder tun konnte, umarmten zwei knochige Arme sie und wiegten sie hin und her wie ein Kind.
»Gütiger Himmel! Xelia, wo kommst du her?« Annas Stimme, so vertraut! Xelia zwang sich, Luft zu holen. Sie hätte ihr tausend Dinge sagen wollen, stattdessen liefen ihr nur die Tränen übers Gesicht.
Die beiden Frauen umarmten sich und hielten sich so fest, dass Xelia Anna zittern spürte.
»Ich warâs nicht.«
Obwohl sie die drei Worte nur geflüstert hatte, fühlte sie Annas Nicken. »Wer warâs?«, kam es gepresst zurück.
»Der Gerber.« Anna erstarrte. Dann zog sie ihre Schwester auf das Moos hinunter. Xelia blickte in die entsetzten Augen der Schwester. Nach einer Weile des Schweigens hob sie erneut an: »Der Gerber warâs.« Und dann erzählte sie Anna mit rauer Stimme, was an jenem Abend, als sie von der Gerberei verschwand, passiert war.
Anna schwieg.
Doch Xelias Bericht reichte aus. Mehr musste nicht gesagt werden zu Samuels Tod. Sie hielten sich umschlungen, wiegten sich hin und her, wie lange, wusste Xelia im Nachhinein nicht mehr. Als sie sich endlich voneinander lösen konnten, spürte Xelia die Unruhe ihrer Schwester. »Du musst zurück, nicht wahr?« Beiden lagen tausend Fragen auf der Zunge, beide wussten, dass sie keine Zeit dafür hatten.
Anna nickte wieder. »Seit du weg bist, lässt er uns fast gar nicht mehr aus dem Haus. Ich bin nur hier, weil er vondem verdammten Seifenkraut braucht, um eines der Felle zu waschen.«
Xelia musste trotz allem lächeln. »Und du weiÃt nicht, wo duâs finden kannst, stimmtâs?«
»Das war doch immer deine Aufgabe gewesen!« Obwohl sie versuchte, ihrer Stimme einen humorvollen Ton zu geben, hörte Xelia auch anderes mitschwingen: Zweifel, Fragen. Angst.
»Ich zeigâ dir gleich, wo du mehr Seifenkraut findest, als du je brauchen wirst«, versprach sie und bat dann: »Aber erzähl erst schnell! Was ist los bei euch?«
»Der Gerber hat dich nicht angeschwärzt.«
Xelia glaubte, nicht recht zu hören. Versteckte sie sich etwa völlig umsonst hier im Wald?
»Es war der Tuchmacher selbst, der Samuel gefunden hat. Als sein Sohn in der Nacht nicht zurückkam, ist er am nächsten Morgen mit seinem ganzen Haushalt ausgeritten, um nach ihm zu suchen. Und als er ihn dann am Wald tot auffand, war sein erster Weg zu uns in die Gerberei. Wo du seist, hat er wissen wollen. Er war so beherrscht und so ruhig und kreidebleich â du kannst es dir nicht vorstellen. Es war unheimlich.« Anna runzelte bei der Erinnerung die Stirn. »Zuerst hat der Gerber noch behauptet, er wüsste nicht, wo du dich aufhältst. Doch dann ist auch noch der Büttel hereingekommen, den der Blaustein wohl zuvor schon aufgesucht hatte. Gemeinsam haben sie dem Gerber ins Gesicht gesagt, dass seine Tochter eine Mörderin sei. Und dass du Samuel erschlagen hättest, weil er dich nicht wollte. Und es hat nicht lang gedauert, bis der Gerber ihnen beipflichtete.« Anna schüttelte sich. »Es war so widerlich, wie mitleidsheischend er tat!«
»Also hat die Sau mich doch angeschwärzt!«
Die Schwester ergriff ihre Hand. »Xelia, du bist in groÃer Gefahr! Blaustein hat eine Belohnung auf dich ausgesetzt. Alle Leutâ suchen nach dir! Sie reden von nichts anderem mehr. Ein Wunder, dass sie noch nicht über dichgestolpert sind! Verdammt noch mal, warum bist du nicht schon längst über alle Berge?«
Xelias Herz hatte während Annas Worten schneller zu schlagen begonnen. Sie zögerte noch einen
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