Die Liebe des Kartographen: Roman
bald für eine Abstiegsroute entscheiden müssen. Je nachdem â¦
Ein Schrei, markerschütternd und schriller, als Philip jemals einen gehört hatte, zerriss die eisige Stille. Alois hörte auf zu kauen und hob den Kopf.
»Was war denn das?« Unwillkürlich flüsterte Xelia. Sie lief um Alois herum zu Philip.
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein Tier? Ich kann niemanden sehen, nirgendwo!«
Und wieder ertönte der Schrei um Leben und Tod. Es war eine Frau.
»Das ist kein Tier! Da braucht jemand Hilfe!« Bevor er sie halten konnte, lief Xelia los. Unbeirrt, als hätte sie ihr Ziel genau vor Augen, und den rutschigen Boden gar nicht mehr zur Kenntnis nehmend, verschwand sie hinter der nächsten Wegbiegung.
Für einen Augenblick verschlug es Philip die Sprache. Halt , wollte er ihr nachschreien. Wo willst du hin? und Wenn da Leute sind, dann bist du in Gefahr. Stattdessen ruckte er an Aloisâ Zügel. »Xelia! Warte auf mich! Verdammt noch mal!«Als er um die Biegung ging, sah er sie stehen: drei Wagen, bunt angemalt. Die Spielleute vom Tag zuvor!
Alois wieherte erfreut beim Anblick der fremden Pferde und zog in ihre Richtung. Philip spürte, wie sich in seine Angst um Xelia auch so etwas wie Wut mischte. Warum musste das Weib losflattern wie eine wild gewordene Biene? Was ging sie es an, wenn sich andere stritten und anschrien? Sich einzumischen tat selten gut, war seine Erfahrung. Und er war bisher damit nicht schlecht gefahren!
Keiner beachtete ihn, als er Alois an einem der Wagen anband. Fünf oder sechs Leute drängten sich um Xelia, die am Boden kniete. Eine Frau, mit einem Leib so dick, dass es aussah, als würde sie gleich platzen, wälzte sich schreiend hin und her. Neben ihr saà ein groÃer schwarzer Hund, der zähnefletschend in die Runde knurrte. Xelia hingegen beachtete er nicht. Als hätte sie Augen im Rücken, drehte sie sich zu Philip um und sagte: »Die Frau bekommt ein Kind.«
»Und? Was geht uns das an?« Es war Philip gleichgültig, dass er sich ruppig anhörte. Wenn sie nicht auf der Stelle verschwanden, würden die Leute mitbekommen, um wen es sich bei Xelia handelte, und das würde ihr Ende sein! Noch galt ihre Aufmerksamkeit der Frau am Boden â unentwegt holte einer eine weitere Decke, hielt ihre Hand oder strich ihr verschwitzte Haare aus der Stirn. Noch war es nicht zu spät, unerkannt wegzukommen! Er wollte Xelia heimlich ein Zeichen machen, sie unauffällig zum Aufbruch bewegen, doch alles, was er zustande brachte, war eine mürrische Grimasse.
Für einen kurzen Moment schaute sie von der Frau auf, blieb aber bei ihr sitzen.
»Wir müssen weiter! Auf, auf, lass uns gehen«, brummte Philip und wollte Alois wieder losbinden, als eine Stimme, die Xelias sein musste, das aufgeregte Durcheinander der anderen übertönte.
» Du kannst gehen, wohin du willst! Ich bleibe hier. Die Frau braucht Hilfe. Und ich müsste verdammt sein, wenn ich jetzt davonliefe!«
Xelia fühlte sich bei weitem nicht so sicher, wie sie vor Philip tat. Kaum hatte sie der Gebärenden ins Gesicht geschaut, tauchten Bilder vor ihren Augen auf, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Das Sterbebett ihrer Mutter. Ihr kalkweiÃes Gesicht, auf dem kalter Schweià in Bächen herabrann. Und Blut. Blut, das fontänenartig aus Eulalias Leib schoss. Vor Xelias Augen verschwamm alles rot, und sie musste sich vor lauter Schwindel mit einer Hand am Boden abstützen. Dabei stieà sie an den Hund, der leise zu knurren begann.
»Sei still, Terra!« Die Stimme der Frau war nur noch ein Flüstern. Sie griff nach Xelias Hand. »Du musst mir helfen! Da sind zwei drinnen ⦠Ohne Hilfe sterbâ ich, das fühlâ ich!«
Zweilinge! »Und wenn ich das nicht kann?« Xelia schaute die Frau an, und sie kam ihr so vertraut vor, als würden sie sich schon lange kennen. »Woher willst du wissen, dass ich dir helfen kann?« Sie hörte das Zittern in ihren Worten und schämte sich dafür.
»Du kannst. Deine Augen â¦Â« Die Frau verstärkte ihren Druck auf Xelias Hand, dann wurde sie von einer neuen Welle des Schmerzes fortgetragen. Bei ihrem Schrei begannen die Umstehenden wieder alle durcheinanderzureden. »Sie muss in einen Wagen!« »Was sollen wir nur tun?« »Ein Arzt muss her!« »Wo sollen wir jetzt einen Arzt finden?« Einer
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