Die Liebe verzeiht alles

Oberklässler. Normalerweise nutzte er die Unterrichtspause, um zu lernen oder auf dem Sportplatz zu laufen.
    Es war ein herrlicher, sonniger Tag im Mai. Trotzdem fühlte er sich seltsam, als er auf den Apfelbaum hinter dem Gebäude zuging. Der Baum war vor einigen Jahren versuchsweise gepflanzt worden und wegen seiner vielen oberirdischen Wurzeln kein beliebter Aufenthaltsort. Manche Menschen behaupteten, er wäre deshalb nicht richtig nach unten gewachsen, weil er spürte, dass er nicht nach North Dakota gehörte.
    Ja, der Baum und Gus waren in gewisser Hinsicht Gesinnungsgenossen. Vielleicht zog es ihn deshalb mittags meistens hierher. Allerdings konnte er heute nur an eines denken: Dass er sich mit jedem Schritt mehr von Lilah entfernte.
    Warum nahm seine innere Unruhe bloß stetig zu? Er war es gewohnt, allein zu essen. Gleich zu Beginn der Highschool-Zeit hatte er die Versuche einiger Kameraden abgewehrt, sich mit ihm anzufreunden. Er hatte peinliche Fragen vermeiden wollen, die sicher gekommen wären. Wieso arbeiten deine Eltern nicht? Wie kannst du ohne Elektrizität leben? Stimmt es, dass deine Eltern im Gefängnis waren?
    Einzig Harm und Lilah hatte er sich geöffnet. Sie hatten sich nicht abschrecken lassen, sondern seinen Schutzwall ignoriert und sich zu ihm durchgekämpft. Unwillkürlich erinnerte er sich wieder an die Gardenie in seinem Schließfach, und plötzlich wurde ihm klar, warum er sich heute so seltsam fühlte. Er hätte Lilah nicht bitten sollen, den Ball zu vergessen und stattdessen mit ihm auszugehen.
    Es war ihr wichtig, sich in der Schule einzufügen. Außerdem gefiel es ihr im Gegensatz zu ihm, im Mittelpunkt zu stehen. Die Vorstellung, Lilah zu einem Tanzfest zu begleiten, wo alle Blicke auf ihn und die Ballkönigin gerichtet wären, hatte ihm noch nie gefallen.
    Aber in Kürze würden sie ihre Abschlussprüfung bestreiten. Möglicherweise war es an der Zeit, mit dem Versteckspiel aufzuhören. Um Lilahs willen. Sie war das größte Glück, was ihm im Leben jemals passiert war.
    Indem er mit ihr das Fest besuchte, bewies er vielleicht, dass er der Mann sein konnte, den sie brauchte. Und wenn ihre Beziehung nicht mehr geheim war, konnte er Harm zeigen, wie ernst er es damit meinte, Geld zu sparen und Lilah eine gute Zukunft zu bieten.
    Gus blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf. Ja, mit Lilah an seiner Seite würde ihm alles gelingen. Er würde sich mit ihr fernab von Kalamoose ein neues Zuhause schaffen und ihr keinen einzigen Grund liefern, ihr Vertrauen in ihn zu bereuen.
    Schon drehte er sich auf dem Absatz um und hatte das Gefühl, dass mit jedem Schritt zurück zum Gebäude seine innere Anspannung nachließ. Er würde die heutige Mittagspause ausnahmsweise im Essbereich der Oberklässler verbringen. Natürlich konnte er sich nicht zu Lilah setzen und mit ihr sprechen. Die Entscheidung, sich zu „outen“, mussten sie gemeinsam treffen. Doch wollte er in ihrer Nähe sein und sie zumindest sehen. Er würde ihre Liebe spüren und seine Unruhe verlieren.
    „Ich gebe euch nur wieder, was Hal behauptet“, hörte er Lilahs Freundin Brandi sagen, als er von hinten auf den Essbereich zuging. Offenbar saßen die Mädchen an einem Tisch unmittelbar hinter der Trennwand, die er gerade entlang schlenderte.
    „Und das ist totaler Unsinn“, erklärte Vivian verächtlich. „Lilah würde das nie tun. Ihr Ruf ist ihr wichtig.“
    Gus lächelte. Die vier führten ja eine interessante Unterhaltung.
    „Wenn ihr Ruf ihr wirklich wichtig ist, sollte sie beim Schulball mit einem Freund aufkreuzen“, erwiderte Brandi. „Hallo? Erde an Lilah? Seit Hal und du euch vor zwei Jahren getrennt habt, hast du dich mit niemandem mehr verabredet. Jetzt erzählt er überall herum, er habe Gus Hoffman auf einem Parkplatz in Minot mit einer Blondine knutschend entdeckt, die wie du aussah. Dieses Gerücht verschwindet nicht einfach so schnell wieder aus der Welt.“
    Gus blieb abrupt stehen und hörte Lilah leicht nervös lachen.
    „Seit zwei Jahren heißt es auch, Onkel Harm hätte sich in einen religiösen Eiferer verwandelt, der uns kein einziges Date erlaubt. Also was soll’s? Die Leute glauben sowieso, was sie wollen.“
    „Du bist so naiv. Natürlich glauben sie, was pikanter ist. Und das ist eindeutig Hals Story. Verflixt, Li!“ Vivian klang beunruhigt. „Die Mutter von Gus trinkt, und sein Großvater schleicht den ganzen Nachmittag um die Mülltonnen von Ernies Diner herum und wartet auf die Abfälle.