Die Liebe verzeiht alles
dorthin fahren und in dem heruntergekommenen Lokal die Nachtschicht übernehmen, trotzdem war sie froh, diese Arbeit zu haben. So war sie zumindest in der Lage, ihren Schützling zu ernähren, bis sich ihr vielleicht irgendwann etwas Besseres bot. Und einen Vorteil hatte dieser Job: Sie war nämlich nur weg, wenn Bree schlief und Sara im Haus aufpasste.
„Ja, in Ordnung. Aber danach ist Schluss“, fügte sie eilig hinzu, als sie an Grace dachte. Diese hätte nicht gewollt, dass ihre geliebte Kleine, die momentan ohnehin sehr nervös war, so viel Süßes aß.
Schuldbewusst gab sie der Elfjährigen das Geld für den Donut und beobachtete gedankenverloren, wie sie zur Theke schlenderte. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie mehrfach mit ihr über ihre Mutter sprechen wollen, doch jeder Versuch war von Bree abgeblockt worden. Allerdings hatte das Mädchen selbst viele Fragen gestellt. Wie es gewesen war, in Kalamoose aufzuwachsen, oder auch, warum Lilah nicht geblieben war.
Entgegen ihrer Erwartung schien es dem Mädchen hier zu gefallen. Sie war viel mit Saras altem Fahrrad unterwegs und hatte sich schon mit mehreren Nachbarn angefreundet. Und sie kamen inzwischen viel besser miteinander zurecht.
„Warum suchst du nach einem anderen Job?“, erkundigte sich Bree, als sie an den Tisch zurückkehrte und Lilah wie jeden Morgen die Stellenanzeigen in der Zeitung studierte. „Was stimmt nicht mit dem, den du hast?“
„Einiges. Die Gäste in der Nachtschicht sind manchmal ziemlich schwierig, und der Coffeeshop liegt eine Autostunde von hier entfernt. Ich bin nicht gern so weit weg von dir. Falls mal etwas ist, kann ich nicht gleich bei dir sein.“
„Ich bin doch kein Baby mehr.“
Lilah nickte. „Außerdem könnte ich gut mehr Geld gebrauchen, als ich momentan verdiene.“
„Wie lange werden wir hierbleiben?“
„Das kann ich nicht genau sagen. Mir ist noch nicht so klar, was wir tun werden.“
„Wirst du irgendwann wieder als Schauspielerin arbeiten? Meine Mom hat erzählt, dass du in Theaterstücken und TV-Produktionen mitgewirkt hast. Warum habe ich dich eigentlich noch nirgendwo gesehen?“
Was sollte sie bloß darauf antworten? „Ich habe so einiges gemacht“, erwiderte sie vorsichtig und war sich bewusst, dass sie am Scheideweg stand.
Am liebsten hätte sie Bree belogen und ihr verschwiegen, dass sie in der ganzen Zeit in Los Angeles praktisch nichts erreicht hatte. Seit jeher redete sie die wenigen Minirollen schön und stellte alles größer dar, als es war. Sie fühlte sich einfach besser bei dem Gedanken, dass die Leute glaubten, sie würde die Karriereleiter emporsteigen.
Aber in Wahrheit war sie nie gut genug gewesen, um auch nur die unterste Sprosse zu erklimmen. Und obwohl sie in Kalamoose als jemand Besonderes gegolten hatte, war sie in Hollywood lediglich eine unter vielen.
Jahrelang hatte Lilah diese Tatsache totgeschwiegen und selbst die eigenen Augen davor verschlossen. Sie war in eine Traumwelt geflüchtet und hatte gehofft, dass ihr Stern am Schauspielerhimmel jeden Moment aufgehen könnte.
Nachdenklich blickte sie Bree an, die ihren Donut aufgegessen hatte und einen Schluck Milch trank. Das Mädchen war erst elf und hatte schon einige Schicksalsschläge durchgemacht. Lilah durfte sie nicht weiter verunsichern und ihr erzählen, dass ihre Zukunft in den Händen eines alternden Starlets lag, das kaum etwas auf die Reihe bekam.
Allerdings musste sie sich bald mit ihr zusammensetzen und über diverse Dinge sprechen. Nicht zuletzt darüber, was nun werden sollte. Aber vor allem würde sie versuchen, Bree eine gute Mutter zu sein.
Nur wie sollte sie das machen? Sie konnte Grace nicht das Wasser reichen. Die Freundin hatte nichts auf Ruhm und Glanz gegeben. Sie hatte in sich geruht, mit beiden Beinen im Leben gestanden und zuletzt ihr Geld als Verkäuferin in einer Apotheke verdient. Und sie hatte Bree unendlich geliebt, so wie Bree Grace geliebt hatte.
In den Wochen vor Grace’ Tod war Bree jeden Abend zu ihrer Mutter ins Bett gekrochen und hatte sich in die viel zu dünnen Arme geschmiegt. Sie hatte die blauen Flecke von der Dialyse und den unverkennbaren Geruch nach Krankheit ignoriert und einfach nur bei ihr sein wollen. Und Grace hatte sie ungeachtet ihrer eigenen Schmerzen an sich gedrückt und ihr langsam übers Haar gestrichen, so langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Wie kann ich diesem Kind eine Mutter sein?, überlegte Lilah. Was konnte sie – eine Frau,
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