Die Liebe verzeiht alles
sie zu Gus, der den Kopf schüttelte.
„Nach den Pfannkuchen mit Ahornsirup zum Frühstück?“, antwortete er amüsiert. „Ich glaube, man muss wohl zwölf Jahre alt sein, um so viel Zucker innerhalb so kurzer Zeit verdauen zu können.“
Wenn Elan zwölf ist, muss Gus ihn mit … siebzehn gezeugt haben, rechnete sie aus, und ihr stockte der Atem. Gus hatte sie betrogen! Er hatte ihr erzählt, er würde sie lieben, war aber nicht nur mit ihr ins Bett gegangen, sondern auch noch mit einer anderen Frau.
Und er hat mir verübelt, dass ich mich nicht zu ihm bekannt habe, überlegte sie wütend, während er sich mit dem Jungen an einen Tisch setzte. Am liebsten hätte sie ihn sofort zur Rede gestellt. Doch konnte sie ihn unmöglich vor Bree und Elan mit ihren Fragen konfrontieren. Außerdem brauchte sie erst einmal Zeit zum Nachdenken.
„Komm, Bree, wir gehen.“ Schnell packte sie die Zeitung in die Handtasche und stand auf.
„Ich bin noch nicht fertig!“, protestierte Bree, wandte sich dem Becher mit Milch zu und sog an dem Strohhalm.
„Die kannst du auf dem Heimweg austrinken“, sagte Lilah, aber das Mädchen ignorierte sie. „Na los, nun mach schon“, zischte sie und drehte sich um.
Sie floh aus der Bäckerei und hörte kurz darauf erleichtert, wie das Glöckchen über der Tür bimmelte. „Danke“, sagte sie und marschierte los. Deutlich spürte sie Brees Verwirrung. Aber leider war sie momentan nicht in der Lage, ihr zu helfen. Sie konnte die Geheimnisse, die sie mit sich herumtrug, nicht einfach aufdecken.
Doch erkannte sie jetzt mit fast dreißig Jahren endlich, welchen Preis sie für ihre Lügen und Ausflüchte bezahlte. Sie schufen nicht nur eine Distanz zwischen ihr und den Menschen, vor denen sie die Wahrheit verbarg, sondern bewirkten auch, dass sie sich selbst fremd war.
Lilah hatte die Wahrheit aus Angst vor Ärger und Enttäuschung gefürchtet und deshalb in einer Lügenwelt gelebt. Aber nun schien es ihr immer mehr, dass nur die Wahrheit sie – und auch Bree – retten würde.
Sie musste sich der Vergangenheit stellen und ihr Leben vor sich ausbreiten, damit sie vor sich selbst glaubhaft wurde und Bree ihr vertrauen konnte. Und wo sie anfangen musste, war klar: bei Gus.
Seit anderthalb Wochen besuchte Bree regelmäßig die Fahrbücherei von Rosie Becker, die montags, mittwochs und freitags zwischen elf und eins in Kalamoose hielt.
In der Zeit machte Lilah sich auf die Suche nach Gus.
Vergebens fragte sie zunächst in der Tankstelle nach ihm, hatte dann jedoch im Diner Erfolg. Aufmerksam sah sie sich um, während sie bei der Kasse auf ihn wartete. Hier hatte sich so gut wie nichts verändert. Bis auf den Eigentümer, dachte Lilah, als Gus auf sie zukam. Er passte in seinem grauen Designeranzug irgendwie nicht in diese Umgebung.
„Du hast dich fein herausgeputzt, Gus. Was ist aus dem Jungen von früher geworden, dessen Sachen aus der Altkleidersammlung kamen?“
„Du hast die Frage selbst beantwortet. Ich war damals ein Junge.“ Lächelnd ließ er den Blick über sie schweifen.
Lilah hatte sich sorgfältig auf die Begegnung vorbereitet. Sie trug einen Jeansrock mit dazugehörigem Top und dazu hochhackige Sandaletten. Es tat ihrem Selbstvertrauen gut, modisch und sexy gekleidet zu sein. Ihre Haare hatte sie zu einer zerzausten Hochfrisur aufgesteckt, um die dunkleren Haaransätze bestmöglich zu verdecken.
„Wie ich sehe, bevorzugst du noch immer den gleichen Stil wie auf der Highschool.“
„Ja, das nenne ich Beständigkeit“, gab sie gereizt zurück. Seit heute Morgen hatte sie schlechte Laune. „Eine Eigenschaft, die du wohl leider nicht gerade im Übermaß besitzt.“
Gus bemerkte, dass mehrere Mittagsgäste die Ohren spitzten. „Hast du Lust, dir mein Büro anzusehen? Ich habe es umgestaltet.“ Schon fasste er sie am Ellbogen und ging los, ohne ihre Antwort abzuwarten.
„Gern“, meinte sie bissig, obgleich auch sie auf Zuhörer gut verzichten konnte.
Gus führte sie durch die Küche, in der sie lauter fremde junge Leute und Gloria erblickte, die seit einer Ewigkeit hier arbeitete und ihr zuwinkte. Dann öffnete er die Tür zu seinem Büro, und Lilah blieb erst einmal auf der Schwelle stehen.
Der kleine Raum war tatsächlich gerade renoviert worden. Gus hatte die Wände graugrün streichen lassen und mit Schwarz-Weiß-Fotos von Lakota-Stammesältesten geschmückt. Auf dem Boden lagen indianische Webteppiche in beigefarbenen bis dunkelbraunen Tönen. Und auf
Weitere Kostenlose Bücher