Die Liebesluege
die Krümel des Schokoladencroissants auf. »Ich geh allein zur Bank am Trachycarpus fortunei.«
»Klar. Das ist deine Angelegenheit.«
»Eben. Aber das Treffen ist erst um drei Uhr.« Sie schluckte. »Ich weiß nicht, wie ich die Zeit bis dahin aushalte. Ich komme mir vor, als säße ich auf dem elektrischen Stuhl.«
»Und würdest auf den tödlichen Stromstoß warten? Elena, das darfst du nicht sagen. Klar, Familiensachen sind das Letzte, aber so schlimm sind sie nun auch wieder nicht.«
»Meinst du? Jemand hat mal geschrieben, Familien seien - könnten sein! - wie Maschinen, die deine Gefühle zerstören.«
»So schlimm?«
Elena nickte.
Längst saßen sie vor ihren leer gegessenen Tellern; nur in den Tassen war noch ein Rest Kaffee.
»Weißt du«, sagte Charly langsam, »wenn deine Familie deine Gefühle kaputt gemacht hat, hast du wenigstens einen Schuldigen. Ich find’s grausamer, wenn man selbst die Schuldige ist.«
»Aber niemand wird doch mutwillig alles Gute und Schöne zerstören wie Zuneigung und Vertrauen.«
»Hast recht. Wer das tut, ist ein kompletter, hirnverbrannter Idiot.« Charly stand auf und knallte die Teller aufs Tablett.
Elena hätte am liebsten gefragt, ob Charly mit dem kompletten hirnverbrannten Idioten sich meinte, aber weil Charly ihr Geheimnis für sich behielt, hielt auch sie den Mund.
An diesem warmen, sonnigen Frühlingssonntag warteten eine Menge Leute vor dem Ticketschalter. Unschlüssig, ob sie sich in die Schlange stellen sollten, sahen Elena und Charly sich erst einmal das Äußere an: Zur Bergseite hin glich das Schloss einer uneinnehmbaren Festung, auf der linken Seite, zur Seeseite, punktete es mit einer hübschen Anlage samt einer, wie Charly spöttisch bemerkte, unverbaubaren Aussicht aufs Wasser und die Berge.
Sie besorgten sich dann doch zwei Karten, drängelten sich im Inneren aber sofort bis an den Kopf der Schlange vor und folgten den Hinweisen zum Kerker: Nur die Säule, an die angekettet ein Gefangener zehn Jahre schmachtete, interessierte sie; mit den architektonischen Besonderheiten, der prächtigen Ausstattung, den Möbeln, Gobelins und Gemälden hatten sie nichts am Hut.
Unten im Kerker standen sie vor der Säule mit dem massiven eisernen Ring und stellten sich den Boden bedeckt mit rottendem, fauligem Stroh vor, den Schmutz, den Gestank, den einzelnen Sonnenstrahl, der sich manchmal durch eine schmale Öffnung stahl - jedem, der hier gefangen gehalten wurde, musste das Verlies wie ein Grab vorkommen.
»Mir reicht’s«, wisperte Elena. »Ich muss raus, ich brauche frische Luft.«
Sie drängten sich durch die Menschenschlange und schlenderten dann zur kleinen, parkartigen Anlage am See. Dort setzten sie sich auf die Mauer und ließen die Beine baumeln. Die Sonne wärmte, ziehende Wolken warfen blaue Schatten auf die weißen Gipfel, eine leichte Brise wehte ihnen die Haare aus dem Gesicht und kräuselte das Wasser. Geräuschlos glitten die ersten Segelboote und Surfer über den See.
»Eine Lüge«, sagte Elena leise, »weißt du, Charly, eine Lüge ist so etwas wie ein Ring, an den man sich selbst angekettet hat.«
Charly wandte den Blick von einem Surfer, der die Balance verloren hatte und ins Wasser gekippt war. »Wie meinst du das?«
»Ich hab einmal etwas gesagt, was nicht stimmte. Jetzt, ich meine, in meiner Familie, herrscht Funkstille.«
Der Surfer stand wieder auf dem Brett, aber das Segel lag noch im Wasser.
»Ich halt das nicht länger aus«, flüsterte Elena. »Was soll ich nur tun, um den Zustand zu ändern?«
Der Surfer mühte sich, das Segel aufzurichten.
»Wenn du dich selbst angekettet hast, kannst du dich auch wieder selbst losketten. Schau dir den Surfer an; er ist freiwillig rausgesegelt, er hat die Balance verloren und ist ins Wasser gefallen. Okay, er robbt aufs Brett, jetzt zieht er das Segel hoch, und wenn ihm das gelingt, wird er weitersurfen.«
»Aber es gelingt ihm nicht!«
Tatsächlich lag er wieder im See. Nach dem vierten Versuch erst stand er mit aufgerichtetem Segel im Wind und glitt leicht und sicher übers Wasser.
»Nur ein Dummkopf erwartet, dass der erste Versuch gelingt. Du darfst nicht aufgeben, bis du die Balance gefunden und den Wind im Rücken hast.«
»Du bist meiner Frage ausgewichen.«
»Das bin ich nicht«, widersprach Charly. »Natürlich liegst du nicht im Wasser. Aber es ist doch so, Elena: Du musst wieder auf die Beine kommen. Für dich bedeutet das, dass du entweder deine Familie
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