Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
lässt.«
»Aber wie soll ich das schaffen? Wer wird mich anleiten und mir zeigen, wie ich sie beherrsche?«
Es entstand ein langes Schweigen.
»Es gibt Menschen, die es dich lehren könnten«, sagte Alderan schließlich. »Falls du sie findest und sie bereit dazu sind.«
»Wer?«
»Sie nennen sich die Wächter des Schleiers. Es gibt nur noch wenige von ihnen, was wir der Kirche zu verdanken haben, aber einige haben überlebt. Sie könnten dir helfen.«
Eine plötzliche Erregung durchfuhr Gair, und er setzte sich mit einem Ruck auf. Nie mehr allein mit der Magie zu sein und nie mehr fürchten zu müssen, wozu sie sich entwickeln mochte – war das möglich?
»Wo finde ich diese Wächter? Wisst Ihr das?«, fragte er, aber Alderan schüttelte bereits den Kopf, als Gair noch nicht alle Worte ausgesprochen hatte.
»Das kann ich nicht sagen. Sie leben sehr zurückgezogen, denn sie wollen nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen. Die Inquisition mag zwar schon lange Vergangenheit sein, aber es gibt noch viele in der Kirche, die die Mittel haben, ihnen Schaden zuzufügen, und sie würden es tun, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen.«
Also würde er auch weiterhin allein sein. Die kurze Hoffnung, die sich in Gairs Herz entzündet hatte, war rasch zu einer glühenden Kohle heruntergebrannt, zwar noch nicht ganz erloschen, aber auch nicht ausreichend, um ihn in der Nacht warm zu halten. Er lehnte sich auf die Ellbogen zurück, als eine Brise seufzend über ihn fuhr. Die Sterne am Himmel rollten etwas näher an die Morgendämmerung heran.
»Ich frage mich, woher Ihr so viel wisst, Alderan«, sagte er. »Ich kann Dinge tun, die ich früher nur aus Geschichten und Märchen kannte, aber Ihr redet darüber, als wäre es etwas Normales.«
»Es ist etwas Normales. Es ist sogar das Normalste und Natürlichste auf der ganzen Welt. Der Sang ist ein Teil des Gewebes der Schöpfung. Die Menschen haben einfach nur vergessen, wie sie ihn hören können.«
Das rote Auge der Pfeife flackerte und erlosch. Alderan klopfte sie am Absatz seines Stiefels aus, kratzte den Tabakrest mit seinem Messer zusammen und stopfte den Kopf neu.
»Man kann sagen, dass ich den Sang studiert habe«, sagte er. »Das ist gewissermaßen mein Steckenpferd. Er ist ziemlich gut dokumentiert, wenn man in die richtigen Bücher schaut – in diejenigen, die die Kirche noch nicht vernichtet hat.« Er entzündete einen Ginsterzweig an den Kohlen des Feuers und steckte sich damit die Pfeife wieder an. »Hast du gewusst, dass eine der größten Bibliotheken des Reiches in den Kellergewölben der Sakristei unter Verschluss gehalten und nie das Tageslicht erblicken wird? Es sind Tausende und Abertausende von Büchern, deren Existenz nur noch den Hütern des Index bekannt ist.«
»Sind sie nicht ketzerisch?«
»Was ist Ketzerei anderes als ein anderer Blickwinkel? Bücher sind dazu bestimmt, geteilt zu werden, Gair. Sie sollten allen zur Verfügung stehen und nicht versteckt werden, weil sie – der Himmel möge es verhüten – zum freien Denken ermuntern.«
Gair runzelte die Stirn. »Aber der Index wurde geschaffen, um uns von der Sünde abzuhalten.«
»Und was ist das für eine Sünde?«, gab der alte Mann zurück. »Die Sünde der Philosophie, der Astronomie, der Medizin? Nein, der Index wurde zusammengestellt, um das Wissen zu kontrollieren und die Menschen in Ahnungslosigkeit zu halten. Sie sollen glauben, Schüttelfrost käme von einem Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten und nicht von der Latrine, die zu nahe am Brunnen gegraben wurde.«
»Letzteres entspricht nicht dem, was man mich gelehrt hat.«
»Die Kirche hat dich gelehrt, was sie dir zu wissen erlaubt.« Alderan räusperte sich und sog heftig an seiner Pfeife. »Du bist mit Scheuklappen herumgeführt worden, mein Junge. Glaube mir, es ist gut, dass du diesen Ort hinter dir gelassen hast. Die tote Hand der Inquisition liegt noch immer auf der Schulter der Kirche.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Du besitzt Kenntnisse in Geschichte, nicht wahr? Du weißt, wie das Reich gegründet wurde? Ein Dutzend unbedeutende Herzogtümer haben gegeneinander Krieg geführt und waren zu misstrauisch für einen gemeinsamen Kampf und zu schwach, um allein bestehen zu können, als die Nimrothi-Clans die Bergpässe herabkamen. Es bedurfte der Kirche, um sie zu einer Macht zusammenzuschmieden, die Gwlachs Vordringen aufhalten konnte.«
»Der Hohe Rat erklärte, der Glaube sei in Gefahr. Sie
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