Die Lieferung - Roman
von Übelkeit übermannt, sondern von Tränen. Langgezogene, laute Schluchzer stiegen aus ihrer Kehle und zwangen sie, sich zusammenzukrümmen und sich mit der gesunden Hand auf die Spüle zu stützen, als müsste sie sich tatsächlich übergeben.
Es vergingen einige Minuten, bis sie wieder ruhiger atmen konnte. Sie wusste, dass Frau Mažekienė auf ihrem Balkon alles interessiert verfolgte, denn sie hörte das ruhige, beschwörende »Ja, ja, ja« der Alten, als wollte diese sie aus der Ferne trösten.
»Es ist wirklich grausam, auf diese Weise ein Kind zu verlieren«, sagte Frau Mažekienė, als sie hörte, dass das Schluchzen leiser wurde.
Sigitas Kopf schnellte in die Höhe, als hätte ihr jemand einen elektrischen Schlag versetzt.
»Ich habe kein Kind verloren!«, rief sie wütend, stapfte durchs Wohnzimmer und knallte die Balkontür so heftig zu, dass die Scheibe klirrte.
Aber die doppelte Lüge schnitt sich wie die Klinge eines Messers in sie hinein.
Tante Jolita arbeitete an der Universität. Sie war Sekretärin und persönliche Assistentin von Professor Žiemys am Mathematischen Institut. Der Kontakt zwischen ihr und Sigitas Mutter war abgebrochen, und Sigita hatte schon bald herausgefunden, warum. Jeden Montag und jeden Donnerstag kam der Professor Jolita besuchen. An jenem Donnerstag, an dem
Sigita zu Jolita kam, hatte ihre Tante ihn kurz zuvor an der Tür verabschiedet. Es war der Rauch seiner Zigaretten, den Sigita in der Wohnung gerochen hatte.
Sie verstand anfangs nicht, warum dieses Verhältnis sie so schockierte. Jolita war nicht verheiratet und konnte schließlich tun und lassen, was sie wollte. Sie lebte nicht in Tauragė. Der Professor war vermutlich verheiratet, aber das war schließlich seine Sache.
Zu guter Letzt kam sie zu dem Schluss, dass es das Gewöhnliche war, das sie so schockierte, die Tatsache, dass alles so wenig aufregend war. Sie hatte immer geahnt, dass Jolita irgendetwas angestellt haben musste, was ihre Mutter mit ihrem katholischen Herzen nicht verkraften konnte. Jolita hatte gesündigt, aber niemand wollte Sigita erklären, wie und warum. Als sie noch klein war, schwirrten ihr vage Vorstellungen und Bilder im Kopf herum. Sie sah ihre Tante auf einem Tisch tanzen, während betrunkene Männer ihr dabei zusahen. Sie wusste nicht, woher sie diese Bilder hatte. Bestimmt aus irgendeinem Film.
Das hier war so alltäglich und regelmäßig. Jeden Montag und jeden Donnerstag. Ein bärtiger, gebeugter Mann, der fast 15 Jahre älter als Jolita war und immer mindestens seine Brille vergaß, wenn sie ihn nicht daran erinnerte. Sie hätten ebenso gut verheiratet sein können. Mag sein, dass ihre Affäre früher einmal stürmisch und wild gewesen war, aber das musste lange her sein.
Sigita war nach Vilnius geflohen, um der Verurteilung Tauragės zu entkommen. Der Überwachung und dem Gerede, dem Moralisieren, der Engstirnigkeit und den Vorurteilen. Der Provinz. Bereits im Alter von neun oder zehn Jahren hatte sie Jolita heimlich im Stillen bewundert. Ihre Tante hatte getan, wovon Sigita selbst nur träumte: Sie hatte sich befreit, sich eine Existenz in der Großstadt aufgebaut und lebte, wie
es ihr passte. Deshalb wagte Sigita, sich in dieser Situation in Jolitas Arme zu werfen. Ihre Tante würde es verstehen. Sie würde erkennen, dass sie seelenverwandt waren, aufrührerisch und frei. Und als Jolita sie umarmte und, ohne nachzufragen, bei sich einziehen ließ, schienen all ihre Fantasien Wirklichkeit zu werden.
Aber jeden Montag oder Donnerstag wurde Jolita nervös. Dann begann sie zu putzen, kaufte Wein ein und machte Sigita mehr oder weniger ungeschickt klar, dass sie von fünf Uhr nachmittags bis nach Mitternacht nicht in der Wohnung sein konnte. Als wäre es ihr im höchsten Grade peinlich, wenn der Herr Professor Jolitas halbwüchsiger Nichte begegnete, einem dummen Landei, das sich mit 15 hatte schwängern lassen. Verließ Sigita die Wohnung nicht schnell genug, wurde Jolita immer hektischer und ungehaltener. Sie gab Sigita sogar Geld, damit sie in ein Restaurant und anschließend ins Kino gehen konnte. »Kino ist doch toll, nicht wahr, mein Schatz, sieh dir einen guten Film an!« Sie drückte ihr ein paar zusammengeknüllte Scheine in die Hand und schob sie förmlich zur Tür hinaus. Sigita hatte in jenem Winter wirklich viele Filme gesehen.
Mit der Zeit wurde ihr bewusst, dass Jolita alles andere als frei und selbstständig war. Sie hatte den Job nicht bekommen, weil
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