Die Lieferung - Roman
den breiten Riemen. Nina streckte die Hand aus und strich ihm vorsichtig übers Haar. Er zuckte etwas zusammen, ließ es aber zu, ohne seinen Blick von den neuen Schuhen zu nehmen. Nina machte eine von den Wasserflaschen auf, die sie im Netto gekauft hatte, und reichte sie ihm.
»Atju.«
Der Junge nahm die Flasche mit großen ernsten Augen entgegen und trank gierig, wenn auch ein bisschen unbeholfen. Ein paar Tropfen rannen ihm übers Kinn und tropften auf das neue T-Shirt. Anschließend wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab.
Die Bewegung war so natürlich und alltäglich, dass Nina für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, mit einem ganz normalen Kind, das sie gerade nach einem langen Tag im Kindergarten abgeholt hatte, im Auto zu sitzen. Sie wiederholte das Wort langsam in ihrem Kopf. »Atju.« Hatte er nicht dasselbe Wort gesagt, als sie ihm vor dem Netto das Eis gegeben hatte?
Es musste Danke bedeuten.
Nina erkannte den gesenkten Blick und das leichte Nicken. So bedankten sich die meisten Kinder fast instinktiv. »Danke« war eines der ersten Wörter, die ein Kind lernte, wenn die Eltern auch nur ansatzweise eine anständige Erziehung im Sinn hatten. Und es konnte kein Zufall sein, dass er immer das gleiche Wort sagte, wenn sie ihm etwas gab, dachte Nina. Es musste also »Danke« heißen. Das erleichterte ihre Aufgabe etwas, denn »Mama« war ein bisschen zu universell, um in Vesterbro etwas damit anfangen zu können.
Nina stieg aus dem Auto. Der Asphalt und die Mauern der Häuser hatten die Hitze gespeichert, und der Gestank der Dieselabgase, der vom Hauptbahnhof herüberwehte, lag schwer in der Luft und brannte einem bei jedem Atemzug in den Lungen. Ein schwacher Windhauch wirbelte eine leere Zigarettenschachtel über den Bürgersteig, bis sie an einem trockenen Grasbüschel hängen blieb.
Nur widerwillig ließ sich der Junge aus dem Auto heben, und als er endlich draußen war, bestand er zu ihrer Überraschung darauf, selbst zu gehen. Er versteifte seinen kleinen Körper in ihren Armen und streckte den Kopf protestierend nach hinten, und als sie schließlich aufgab und ihn auf die Füße stellte, blitzte für einen Moment so etwas wie Triumph in seinen Augen auf. Er landete sicher auf dem Bürgersteig und ließ die Sohlen der Sandalen beim Gehen mit einem leisen Klatschen aufschlagen. Dann streckte er ihr die Hand entgegen und legte seine Finger fest um ihre, als sei es die natürlichste Sache von der Welt. Das musste er gewohnt sein, dachte Nina. Er musste es gewohnt sein, dass ihn jemand bei der Hand nahm.
Sie liefen über die Stampesgade, bogen nach rechts in die Colbjørnsensgade ein und folgten dann der Istedgade. Die Hand des Jungen ruhte leicht wie ein Schmetterling in der ihren,
während sie gemächlich an der Kakadu Bar und dem Saga Hotel vorbeiliefen. An diesem lauen Abend waren viele Menschen auf der Straße unterwegs, und als Nina mit dem Jungen die Istedgade überquerte, sah sie, dass die Leute in Sommerkleidern und mit offenen Sandalen in den Straßencafés saßen und Latte, Cola oder Bier tranken. Es war ein ungewöhnlich warmer, trockener Sommer gewesen.
Die ersten Huren, die Nina zu Gesicht bekam, waren Afrikanerinnen. Zwei kräftig gebaute Frauen mit hohen Stiefeln und schwarzen Röcken, die sich straff über ihre muskulösen Oberschenkel spannten. Die beiden standen kaum fünf Meter auseinander, redeten aber nicht miteinander. Die eine lehnte mit einer Zigarette zwischen den zusammengepressten Lippen an der Wand und suchte mit hektischen Bewegungen etwas in ihrer Tasche. Die andere tat nichts. Sie stand einfach zwischen den flanierenden Durchschnittsdänen und starrte auf die Autos, die die Straße entlangfuhren.
Niemand nahm Notiz von Nina und dem Jungen, und ihr wurde bewusst, wie normal sie hier auf der Straße aussahen. Vielleicht waren sie ein bisschen spät unterwegs, der Junge gehörte ins Bett, aber das ließ niemand aufmerken. Nicht einmal hier. In Vesterbro wohnten viele Familien mit Kindern.
Sobald sie auf die Vesterbrogade gekommen waren, lief der Kleine etwas langsamer, folgte ihr aber noch immer widerstandslos. Seine Hand lag ruhig in ihrer, während sie über den Bürgersteig spähte. Zwei blonde Mädchen mit mageren, markanten Gesichtern und langen, dünnen Beinen stritten sich etwas entfernt vor einem offenen Hauseingang. Die eine nahm eine Dose Bier aus der Handtasche und reichte sie ihrer Freundin.
Nina blieb vor den beiden stehen, und
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