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Die Lieferung - Roman

Die Lieferung - Roman

Titel: Die Lieferung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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trat einen Schritt zur Seite und zeigte auf das hoch aufgeschossene, dünne Mädchen, das eben lachend behauptet hatte, 19 zu sein. Sie hatte ihre langen Haare zu einem weichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und Nina dachte im Stillen, dass sie wie ein Fohlen aussah. Ihre Beine wirkten viel zu lang für den Rest ihres schmächtigen Körpers. Die Knie waren knochig und ihre Bewegungen so schlaksig und ungelenk wie bei den meisten Jugendlichen, die noch im Wachstum sind.
    Sie sah Nina unsicher und abweisend an, trat aber trotzdem einen Schritt vor, so dass Nina mit ihr reden konnte, ohne lauter sprechen zu müssen.
    »Do you know the word ›atju‹?«, fragte sie.
    Das Mädchen lächelte unwillkürlich, vielleicht über Ninas Aussprache.
    »It’s ačiû. Ačiû.«
    Sie zog das a ein wenig mehr in die Länge als Nina, und es klang genau so, wie der Junge es ausgesprochen hatte.
    Etwas Weiches, Mädchenhaftes zeichnete sich auf Marijas Gesicht ab, als sie das Wort wiederholte, und sie entblößte eine Reihe perfekter weißer Zähne, die in dem erwachsen geschminkten Gesicht einfach zu neu und zu groß wirkten.
    »That is Lithuanian«, sagte sie und legte sich lächelnd die Hand auf die Brust.
    Nina zeigte auf den Jungen.
    »I need to talk to this boy. I think maybe he is Lithuanian, too.«

    Wenn ihr das Mädchen behilflich war, würde es ihr vielleicht gelingen, dem Jungen ein paar wichtige Informationen zu entlocken. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, ihr zu erzählen, wie er in dem Koffer am Hauptbahnhof gelandet war. Wenn sie das Mädchen nur überreden konnte, mit ihr an einen ruhigeren Ort zu gehen.
    »Could you help me talk to him?«
    Das Mädchen warf erneut einen hastigen Blick über die Schulter, sie war sichtlich auf der Hut und zögerte, doch als plötzlich ein blonder Mann in einem T-Shirt über die Straße auf sie zukam, zuckte sie zusammen.
    »When we talk, we don’t make any money.«
    Sie nickte in Richtung des Mannes, der sich jetzt zielstrebig näherte. Das Mädchen trat einen Schritt zurück und wandte Nina demonstrativ die Seite zu.
    »Tomorrow«, flüsterte sie und sah kurz zu Nina herüber. »After I sleep. 12 o’clock. Do you know the church?«
    Nina schüttelte den Kopf. Es gab in Kopenhagen sicher Tausende von Kirchen, doch sie kannte nicht eine.
    Der Mann war jetzt fast bei ihnen. Er war kaum älter als die Mädchen, dachte Nina, klein und muskulös, und sah irgendwie aus wie ein Handwerkerlehrling. Eine tätowierte Schlange wand sich schwarz an seinem Oberarm empor.
    Das Mädchen bewegte die Lippen, als müsste sie die Worte üben, bis tatsächlich ein Laut über ihre Lippen kam.
    »Sacred heart«, flüsterte sie.
    Die Hand des Mannes legte sich fest um ihren Arm. Er würdigte Nina keines Blickes, als er das Mädchen fortzerrte. Wenige Schritte entfernt klatschte die erste Ohrfeige. Marijas Pferdeschwanz tanzte im Dunkel hin und her, während der Mann dreimal hart zuschlug. Dann ließ er sie los.
    Nina presste das Gesicht des Jungen gegen ihre Schulter und begann in Richtung Istedgade zu gehen. Sie spürte die
Wut in sich hochkochen, und ihr wurde am ganzen Körper heiß, aber sie konnte nichts tun. Jetzt nicht. Nicht, solange sie den Jungen bei sich hatte - vermutlich hätte sie aber auch nichts tun können, wenn sie allein gewesen wäre.
    An der Ecke wagte sie es, sich umzudrehen und einen raschen Blick in die Helgolandsgade zu werfen. Der Mann war längst in den Schatten der Straße verschwunden, und das Mädchen mit dem Pferdeschwanz war auf dem Weg zurück zu dem schwarzen Scooter. Sie ging vornübergebeugt und presste ihre langen, knochigen Arme fest auf die Brust.
    Eines der anderen Mädchen reichte ihr die Hand und streichelte ihr die Schulter. Gleich darauf schallte wieder das erste kühle Lachen aus der Teenagergruppe. Sie hatten eine neue Wette abgeschlossen, das konnte Nina hören, und das Mädchen mit dem Pferdeschwanz lachte am lautesten.
     
    Nina trug den Jungen den ganzen Weg bis zum Auto. Er war wach, aber der kleine, feste Wille, den Nina gespürt hatte, als sie ihn in der Reventlowsgade auf seine eigenen Füße gestellt hatte, war weg. Seine Beine hingen schlaff herunter wie bei einem Hampelmann und stießen ihr bei jedem Schritt an Bauch und Oberschenkel. Als sie am Auto angekommen waren, wollte er nicht mal mehr aufrecht stehen, während sie die Tür aufschloss. Sie legte die karierte Decke über den stinkenden Urinfleck auf der Rückbank und ließ den Jungen

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