Die Lieferung - Roman
genug hatte von Mücken und Eisbären, wieder nach Hause zurückzukehren zu seiner Familie, in sein Leben, genauso wie es jetzt war, mit allen Figuren auf den gleichen Positionen. Na
ja, ungefähr. Es gab schon den einen oder anderen Zug, den er gerne anders machen würde. Es war ja nicht so, dass er das alles nicht wollte, die Kinder, das Haus, die Lebenshaltungskosten - er hätte das andere nur eben auch gern gehabt. Es gab eine Zeit, da hatte er geglaubt, dass sich beides miteinander verbinden ließe - drei Monate Grönland, während Nina zu Hause das Ruder übernahm. Aber das war vor ihrer ersten Flucht gewesen. Denn genau das war es, daran zweifelte er keine Sekunde. Eine Flucht. Hals über Kopf, als wollte sie ihn verlassen. Diesen Tag würde er niemals vergessen. Die Erinnerung daran steckte in seinem Fleisch wie eine Giftkapsel, die nicht ganz dicht war und stetig kleine Mengen Gift absonderte.
Es war fünf Monate nach Idas Geburt gewesen. Sie lebten in Århus, in einer kleinen, langweiligen Zweizimmerwohnung an der Ringgade. Nina hatte ihre Ausbildung zur Krankenschwester kurz zuvor abgeschlossen, und er steckte mitten in seiner Doktorarbeit am Geologischen Institut. Eines Tages, als er aus dem Institut nach Hause kam, hörte er Ida schon im Treppenhaus schreien. Er nahm die Terrazzotreppe in fünf Sätzen und schloss die Tür auf. Ida saß im Kinderstuhl am Küchentisch, und ihr molliges Gesicht war verquollen und scharlachrot vom Weinen. Sie hatte nichts an, und auf dem Boden stand die grüne Plastikbadewanne, halb gefüllt mit Wasser. Nina stand an der Tür zur Hintertreppe, den Rücken an den Türrahmen gepresst, wie in die Ecke gedrängt. Ein Blick auf sie reichte, und ihm war klar, dass er sie in diesem Moment besser nicht ansprach. Es war in dieser Situation sinnlos, ihr Fragen zu stellen oder tatkräftige Hilfe von ihr zu erwarten. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon so dort stand. Lange genug jedenfalls, dass Ida den Kinderstuhl ordentlich nasspinkeln konnte.
Am nächsten Tag rief sie ihn aus einer Telefonzelle vom
Flughafen in Kastrup an. Sie war auf dem Weg nach London. Und von dort weiter nach Liberia. Mit einer Organisation, die sich MercyMedic nannte. Wie sich zeigte, hatte sie den Job nicht von einem Tag auf den anderen angeboten bekommen. Karin hatte ihr geholfen, wenn er sich recht erinnerte. Sie kannte irgendeinen französischen Arzt, der bereit war, großzügig über Ninas mangelnde Berufserfahrung hinwegzusehen. Aber obwohl Nina diverse Vorbereitungen getroffen haben musste, hatte sie dieses Angebot mit keinem Wort erwähnt, es nie zur Diskussion gestellt. Sie war einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Und er stand da mit einem fünfmonatigen Säugling auf dem Arm.
Erst sehr viel später gab sie ihm so etwas wie eine Erklärung. Er wusste von ihren Schlafproblemen und dass sie fast rund um die Uhr über Ida wachte, aus Furcht vor allen möglichen wirklichen und unwirklichen Katastrophen. Er hatte immer versucht, sie zu beruhigen, aber kein vernünftiges Argument brachte sie von der Überzeugung ab, dass ihrem Kind etwas Schreckliches zustoßen könnte.
»Ich habe sie gebadet«, sagte sie, nicht an jenem Tag, sondern fast ein Jahr später. »Ich habe sie gebadet, und plötzlich färbte sich das Wasser rot. Natürlich wusste ich, dass das Wasser nicht wirklich rot ist. Aber immer, wenn ich sie ansah, war das Wasser rot.« Unter Aufbieten ihrer ganzen Selbstbeherrschung war es ihr gelungen, Ida aus der Wanne zu heben, in den Kinderstuhl zu setzen und zu bleiben, bis er nach Hause kam, obwohl sie am liebsten Hals über Kopf aus der Wohnung getürmt wäre. Heute wusste er, dass das an ein Wunder grenzte.
Später hatte er sich mit einigen ihrer Kollegen unterhalten, mit denen sie an die verschiedensten Orte der Welt geschickt worden war. Sie bewunderten sie und beschrieben sie als nahezu unmenschlich cool und krisenkompetent. Wenn
Flüsse ganze Brücken wegschwemmten, wenn mitten im Lager eine Leuchtgranate landete und das Lazarettzelt brannte, wenn Menschen eingeliefert wurden, denen Beine und Arme von Minen abgerissen worden waren … dann war Nina diejenige, auf die immer Verlass war. Sie betrieb ein Ein-Frau-Unternehmen mit dem klaren Ziel, die Welt zu retten. Aber sie war nicht in der Lage, bei ihrer Familie damit anzufangen.
Er bemerkte, dass die Patatau -Geräusche verstummt waren, als Ida plötzlich in der Tür zum Flur auftauchte.
»Kommt sie zurück?«, fragte sie.
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