Die Lieferung - Roman
Sie trug neongrüne Shorts und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift I’m only wearing black until they make something darker . Ein kleines Piercing mit einer Silberperle in ihrem Nasenflügel dokumentierte eine seiner letzten Niederlagen an der Teenagerfront.
Sie sagte kaum noch »Mama«, dachte er plötzlich. Entweder »sie«, oder seltener »Nina«.
»Ja. Aber wohl erst morgen.« Letzteres sagte er, um Nina und sich zu schützen. Vielleicht war das ein Rest von Loyalität, vielleicht wollte er aber auch einfach nicht unwissend klingen?
»Aha.«
Ida verschwand auf den Flur.
»Zeit fürs Bett«, rief er hinter ihr her.
»Ja, ja, ja«, antwortete sie genervt.
Er legte die Zeitung beiseite und starrte vor sich hin. Er konnte sich ohnehin nicht konzentrieren. Nina hatte ihn angelogen. Das hatte er den Pausen und der Distanz in ihrer Stimme entnehmen können, und diese Tatsache hatte ihn tief getroffen und wog für ihn schwerer als die Tatsache, dass sie vergessen hatte, Anton abzuholen. Er hatte nicht die Kraft gehabt, sie damit zu konfrontieren, so wie er nicht die Kraft hatte, den Kopfhörerkampf mit Ida aufzunehmen. In letzter Zeit war ihm die Energie immer mehr abhandengekommen.
Es war seit damals besser geworden. Glaubte er zumindest. Nein, es war wirklich besser. Olau hatte ihr geholfen. Ihnen beiden, konnte man sagen. Nach einem routinemäßigen Screening nach einigen schrecklichen Erlebnissen in Tbilissi war es dem norwegischen Psychologen gelungen, Nina davon zu überzeugen, dass sie Hilfe brauchte. Nicht vorrangig wegen der Erlebnisse in Tbilissi, Dadaab oder Sambia, sondern wegen der Dinge, die ihr das Gefühl gaben, in Tbilissi oder anderen mehr oder weniger schlimmen Krisengebieten sein zu müssen .
Nina kam nach Hause, kahl geschoren und klapperdürr, aber mit einer neuen … na ja, vielleicht inneren Ruhe. Einer zurückhaltenden Ausgeglichenheit, die ihn damals davon überzeugt hatte, dass sie weiter zusammenleben und wieder lernen könnten, sich zu lieben. Sie zogen nach Kopenhagen. Ein Neustart. Sie bekam die Stelle im Kulhuslager und er eine Stelle als »mud logger«, wie die anderen Geologen es abschätzig nannten, wenn man sich mit Bohrproben aus der Nordsee und anderen nicht sehr weit entfernten Plätzen beschäftigte. Sie waren sich beide einig, dass jetzt die Familie dran war. Die spröden familiären Bande sollten eine Chance bekommen.
Tja. Er war immer noch da. Und sie auch. Wenn man davon absah, dass sie ihn heute Nachmittag belogen hatte. Was ihn quälte, war, dass er nicht wusste, ob sie ihn nicht morgen oder übermorgen aus Zimbabwe oder Sierra Leone oder aus irgendeiner anderen gefährlichen Krisenregion anrief.
Hol dich der Teufel, Nina. Er stellte die Tasse weg und stand abrupt auf. Er verspürte selbst den unbändigen Drang, das Haus zu verlassen und einfach abzuhauen. Nur für ein paar Stunden. Ein paar Jahre. Aber nur, wenn er bei seiner Rückkehr alles genauso vorfinden würde, wie es jetzt war.
Kurz nach vier wurde er von einem Klingeln an der Tür geweckt. Es war nicht Nina, die ihre Schlüssel vergessen hatte. Es waren zwei Polizisten. Einer in Uniform, einer in Zivil.
»Ist Nina Borg zu sprechen?«, fragte der Beamte in Zivil und hielt seinen Ausweis mit einer schwungvollen Handbewegung hoch, die er offenbar viele Jahre geübt hatte.
Morten spürte, wie ihm der Kaffee sauer aufstieß.
»Nein«, sagte er. »Soweit ich weiß, ist sie bei einer Freundin. Worum geht es?«
»Dürfen wir einen Augenblick reinkommen? Wir ermitteln in einer Mordsache.«
Das kleine Holzhaus der Familie Baronas lag wie eine Insel inmitten einer Plattenbausiedlung, die sehr an Sigitas Wohngegend erinnerte. Es war so kahl zwischen den Betonklötzen, dass einem der bescheidene Garten des Hauses wie der reinste Dschungel vorkam. Ein kleines rotes Mädchenfahrrad war mit zwei dicken Schlössern an den Zaun gekettet.
Sigita schob das Gartentor auf und ging auf das Haus zu. Es roch nach gebratenen Zwiebeln. Wahrscheinlich bereitete Julija Baronienė gerade das Abendessen vor. Sigita drückte den Klingelknopf, der auf dem abblätternden blauen Türrahmen seltsam neu wirkte. Die Tür wurde gleich darauf von einem etwa 12- oder 13-jährigen Jungen aufgerissen. Er trug ein weißes Hemd mit einer Krawatte und sah mit seinen nass gekämmten Haaren seltsam gestriegelt aus.
»Guten Abend«, sagte Sigita. »Könnte ich wohl mit deiner Mutter sprechen?«
»Und wer sind Sie?«, fragte er
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