Die Lieferung - Roman
jeglicher Fähigkeit, zu sprechen und sich zu bewegen, beraubt. Im Hintergrund hörte Sigita eine Tür schlagen, gefolgt vom Laut von Stimmen, aber sie wandte den Blick nicht von Julija.
»Sagen Sie mir nur, was Sie tun sollten«, bat sie. »Ich werde nicht zur Polizei gehen, das verspreche ich. Ich will nur Mikas zurückhaben.«
Julija Baronienė sagte noch immer nichts, als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
»Guten Tag«, grüßte der Mann, der ins Zimmer trat. »Aleksas Baronas. Wenn ich Marius richtig verstanden habe, kommen Sie von der Schulbehörde?« Der Mann, der ihr höflich die Hand reichte, war ein paar Jahre älter als Julija, ein freundlicher Mann mit Halbglatze in einem graubraunen Anzug, der ihm etwas zu weit war. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte er barsch, als er sah, wie Zita sich an ihre Mutter klammerte.
Julija wusste offensichtlich nicht, was sie antworten sollte. Also musste Sigita selbst die Situation erklären.
»Mein kleiner Sohn wurde entführt, von denselben Menschen, die auch Zita entführt haben«, erklärte sie. »Ich will nur wissen, was ich tun muss, um ihn wiederzubekommen.«
Er sammelte sich schneller als seine Frau.
»Was für ein ausgewachsener Unsinn«, sagte er. »Sehen Sie denn nicht, dass Sie dem Kind Angst machen? Zita ist nie entführt worden, und das wird sie auch nicht. Nicht wahr, mein Schatz? Komm und gib deinem Vater einen Kuss. Julija, wir müssen jetzt essen, damit wir nicht zu spät zu Marius’ Konzert kommen.«
Zita ließ sich überreden und löste ihren Klettengriff von der Mutter. Ihr Vater hob sie hoch, und sie schlang ihm die Arme um den Hals.
»Es tut mir leid, dass ich so unhöflich sein muss«, sagte er. »Aber mein Sohn spielt heute Abend bei einem größeren Konzert mit.«
Sigita schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wie können Sie … Wie können Sie nur so unberührt sein? Wieso verweigern Sie mir Ihre Hilfe? Wo Sie doch wissen, wie das ist?« Sie führte die Hand zum Kinn, als hoffte sie, so die Tränen aufzuhalten, aber es gelang ihr nicht.
Die Freundlichkeit des Mannes begann zu bröckeln.
»Ich muss Sie bitten zu gehen«, erwiderte er nur. »Sofort.«
Sigita schüttelte erneut den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen, sie konnte sie nicht aufhalten. Sie riss einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und schnappte sich eins der Notenhefte, die auf dem Klavier lagen. Sie ignorierte Baronas’ unwillkürliche protestierende Handbewegung und kritzelte mit energischen Buchstaben ihren Namen, ihre Adresse und Telefonnummer auf den Umschlag.
»Hier«, sagte sie. »Ich flehe Sie an. Sie müssen mir helfen.«
Inzwischen weinte auch Julija Baronienė. Mit einem unterdrückten Schluchzer stürzte sie aus dem Wohnzimmer. Zita wand sich aus der Umarmung ihres Vaters, um ihr zu folgen, aber ihr Vater hielt sie zurück.
»Nicht jetzt, Schatz. Mama hat jetzt keine Zeit.«
Zita sah zu ihrem Vater hoch. Dann drehte sie sich plötzlich
um und setzte sich auf die Klavierbank, wo sie kerzengerade und mit geschlossenen Augen sitzen blieb. Sie begann eine Tonleiter zu spielen, langsam und mechanisch, mit der Präzision eines Metronoms. Rauf und runter. Da-da-da-da-da-da-da-dah, di-da-di-da-di-da-da-dih. Da-da-da-da-da-da-da-dah …
Baronas’ Gesicht verzog sich wie im Schmerz. Im nächsten Moment trat er neben seine Tochter und stoppte die mechanisch spielenden Finger, indem er das Mädchen sanft beim Handgelenk fasste. Dabei sah er Sigita an.
»Sonst macht sie stundenlang weiter«, erklärte er und sah plötzlich schrecklich hilflos aus. Sie haben seine Familie kaputtgemacht, dachte Sigita, und er weiß nicht, wie er sie wieder reparieren soll.
Ihr Blick fiel auf Zitas Hände, die noch immer auf den Tasten lagen, als wollten sie mit dem Spiel fortfahren, sobald er sie losließ. Sie fröstelte, und in ihrem Kopf kamen die Bilder wieder hoch, von Mikas in einem Keller, Mikas alleine im Dunkeln, umgeben von lauter fremden Menschen, die ihm Böses wollten.
»Würden Sie jetzt bitte gehen?«, sagte Zitas Vater. »Sie sehen doch wohl, dass wir Ihnen nicht helfen können, selbst wenn wir es wollten.«
Während des ganzen Nachhauseweges sah Sigita Zitas Hände vor sich. Die Finger eines achtjährigen Mädchens, verkrümmt wie Krallen auf den vergilbten Tasten. Abgesehen vom kleinen Finger der linken Hand, der gerade nach oben gestreckt war. Zita fehlte ein Nagel.
Jan war auf
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