Die Lieferung - Roman
vorsichtig. Es klang, als hätte er Order bekommen, nicht jeden Besucher hereinzulassen.
»Sag, dass Frau Mažekienė vom Schulamt hier ist«, antwortete Sigita, damit ihr die Tür nicht genauso abrupt vor der Nase zugeschlagen wurde, wie der Hörer aufgelegt worden war.
Der Junge stand eine ganze Weile reglos da, und Sigita ging auf, dass er jetzt im Kopf wahrscheinlich alle Möglichkeiten durchging, ob die Sache ihn betreffen könnte. Sie lächelte beschwichtigend.
»Ähm, kommen Sie rein«, sagte er. »Meine Mutter macht gerade das Abendbrot, aber sie kommt so schnell sie kann.«
»Ich danke dir.«
Er führte sie ins Wohnzimmer und verschwand dann selbst vermutlich in Richtung Küche. Sigita blieb stehen und sah sich um. Das große weiche beige Sofa war eindeutig neueren Datums, aber alles andere war alt. Der Holzboden war von den vielen Lagen Firnis dunkel geworden, und vor dem Sofa lag ein afghanischer Teppich in kräftigem Rot, Weiß und Türkis. An drei Wänden standen hübsch geschnitzte Regale, die aussahen, als wären sie zur selben Zeit wie das Haus gebaut worden. Die Regalböden quollen über von Büchern und Notenheften. Vor der vierten Wand, zwischen den beiden Fenstern, stand ein Klavier aus glänzendem dunklem Mahagoni, dessen Tasten so alt und abgenutzt waren, dass ihre mehr gelben als weißen Elfenbeinabdeckungen sich leicht nach oben bogen.
Die Tür ging auf, und eine kleine, kräftige Frau trat ein. Ihre Tochter klebte förmlich an ihr. Mit ihr wehte ein Hauch Küchenduft herein, und als sie sich die Hand gaben, registrierte Sigita die kühle, feuchte Handinnenfläche, als wäre Frau Baronienė beim Kartoffelschälen unterbrochen worden.
»Julija Baronienė«, stellte sie sich vor. »Und das ist meine Tochter Zita.« Zita senkte den Blick und machte keine Anstalten, die fremde Frau zu begrüßen. Sie hatte geflochtene Zöpfe, und ihr feiner Mittelscheitel leuchtete weiß im dunklen Haar. »Sie müssen entschuldigen«, sagte ihre Mutter. »Zita ist ein wenig schüchtern.«
Sie erkennt mich nicht, dachte Sigita. Aber wie sollte sie auch? Es ist so lange her. Sigita ihrerseits zweifelte keine Sekunde. Kaum, dass sie das rote Haar und das runde Gesicht mit den warmen dörrpflaumenfarbenen Augen gesehen hatte, wusste sie: Das war die Julija.
»Das ist nicht weiter verwunderlich«, meinte Sigita. »Wenn man berücksichtigt, was Zita erlebt hat.«
Julija Baronienė erstarrte.
»Wieso sagen Sie das?«, fragte sie.
Ich kann genauso gut gleich zur Sache kommen, dachte Sigita.
»Ich komme nicht von der Schulleitung«, sagte sie. »Ich bin gekommen, um zu erfahren, wie Sie es angestellt haben, Zita zurückzubekommen. Verstehen Sie - die gleichen Menschen haben mir meinen kleinen Jungen weggenommen.« Beim letzten Wort brach ihre Stimme.
Zita stieß einen Laut aus, der Sigita an ein Katzenjunges erinnerte, das ertränkt werden sollte. Sie drehte sich zu ihrer Mutter und verbarg das Gesicht an ihrem Bauch.
Einen Augenblick lang sah Julija Baronienė aus, als hätte Sigita mit einem Messer auf sie eingestochen. Dann nahm sie sich zusammen und zwang sich ein steifes Lächeln auf die Lippen.
»Ach, diese dumme Geschichte«, sagte sie. »Das war alles nur ein Missverständnis. Die Mutter einer Freundin von Zita hat sie damals abgeholt, nicht wahr, Zita?« Die Kleine sagte nichts, ließ ihre Mutter aber keine Sekunde lang los. Ihre Unsicherheit ließ sie viel jünger wirken, als sie in Wirklichkeit war. »Es ist mir sehr unangenehm, dass wir die kostbare Zeit der Polizei auf diese Weise in Anspruch genommen haben. Aber … aber es tut mir schrecklich leid für Sie und Ihren Jungen. Sind Sie sicher, dass es für sein Verschwinden keine ganz normale Erklärung gibt? Vielleicht hat er sich ja nur verlaufen?«
»Er ist drei Jahre alt. Meine Nachbarin hat gesehen, wie er mit jemand mitgegangen ist. Außerdem …« Sie zögerte, ehe sie fortfuhr. »Außerdem muss es eine Verbindung geben. Können Sie sich nicht mehr an mich erinnern?«
Julijas Blick wanderte flackernd durch den Raum, ehe sie ihn auf Sigita richtete. Und Sigita sah, wie die Frau sie doch langsam wiedererkannte.
»Oh«, sagte sie nur.
Sigita nickte. »Ja«, sagte sie. »Verzeihen Sie mir meine Lüge. Aber nachdem Sie den Telefonhörer einfach aufgelegt haben, hatte ich Angst, dass Sie nicht mit mir reden würden, wenn Sie … wenn Sie gewusst hätten, wer ich bin.«
Julija Baronienė stand reglos da, als hätte die Erkenntnis sie
Weitere Kostenlose Bücher