Die Lieferung - Roman
danach, dass sie es auf den Boden warf. Sie tastete mit ihrer gesunden Hand
danach und nahm das Gespräch entgegen, ohne einen Blick auf die Nummer geworfen zu haben.
»Hallo?«
»Ich bin’s.«
»Äh … wer?«
»Tomas.«
Sie hätte fast noch einmal nachgefragt, ehe ihr bewusst wurde, dass ihr kleiner Bruder am Telefon war. Sie hatte seine erwachsene Stimme nie gehört, als sie ging, war er gerade im Stimmbruch gewesen. Er war zwölf Jahre alt, als sie aus Tauragė geflohen war, und seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
»Tomas!«
»Ja.«
Pause. Sigita hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Was sagt man zu einem Bruder, mit dem man acht Jahre nicht gesprochen hat?
»Wir haben von Darius’ Mutter erfahren, dass Mikas … dass er verschwunden ist«, sagte Tomas schließlich.
»Ja.« Ihr Hals schnürte sich zu, so dass es nur bei diesem einen Wort blieb.
»Das ist wirklich … schrecklich«, fuhr er fort. »Äh … äh … ich dachte nur. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann …?«
Eine Welle der Zuneigung ging durch sie hindurch und raubte ihr das letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte. Sie ließ sich aufs Sofa fallen, wobei ihr das Handy aus den Händen rutschte und ihr auf den Schoß fiel. Erneut rannen ihr Tränen über die Wangen. Sie wusste nicht mehr, zum wievielten Mal an diesem Tag.
»Sigita?«
»Ja«, stieß sie schluchzend hervor. »Danke. Vielen, vielen Dank. Auch dafür, dass du angerufen hast.«
»Ach, nicht der Rede wert. Ich hoffe, sie finden ihn.«
Sie konnte nichts mehr sagen, und er schien es zu merken. Nur ein leises Klicken war zu hören, als er auflegte. Aber er hatte angerufen. Sie hatte immer nur sporadisch Nachrichten von zu Hause erhalten, und nach ihrer Trennung von Darius waren auch ihre letzten verlässlichen Informationsquellen aus Tauragė versiegt. Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie alles wissen wollte. Was machte Tomas jetzt, nachdem er mit dem Gymnasium fertig war? Wohnte er überhaupt noch zu Hause? Hatte er eine Freundin? Wie ging es ihm? Hatte er ihr verziehen?
Offenbar. Sonst hätte er sie doch nicht angerufen.
Sigita versuchte, etwas zu schlafen, aber es war hoffnungslos. Ihre aufgewühlte Fantasie ließ ständig neue schauerliche Bilder auf der Innenseite ihrer Lider auftauchen, und es gelang ihr nicht, sie abzuschalten.
Wenn ihr meinem Jungen etwas antut, bringe ich euch um.
Es war ein Entschluss, der sie ein wenig beruhigte - als glaubte sie, die Entführer müssten spüren, wie hoch der Preis war, den sie zahlen mussten, wenn sie Mikas auch nur ein Haar krümmten. Einfach weil sie beschlossen hatte, dass es so sein sollte. Natürlich war das Unsinn, und das wusste sie auch. Trotzdem half es: Wenn ihr ihm etwas antut, bringe ich euch um.
Zu guter Letzt setzte sie sich auf den Balkon. Der Beton strahlte noch immer die Wärme ab, die er im Laufe des Tages gespeichert hatte, so dass sie sich nicht einmal eine Strickjacke übers Nachthemd ziehen musste. Sie dachte an Julija Baronienė, die ihr Kind wiederbekommen hatte. Sie dachte an Gužas und an Valionis. Waren sie noch im Büro? War Mikas wichtig genug? Oder gab es so viele verschwundene Kinder, dass man nicht rund um die Uhr arbeiten konnte, nur weil noch ein Fall dazugekommen war?
Sie wollten, dass ich im Fernsehen auftrete, dachte sie dann. Das kann doch nur bedeuten, dass sie den Fall wichtig nehmen. Sie musste an das kleine englische Mädchen denken, das verschwunden war, erinnerte sich aber nicht an seinen Namen. Das Gesicht war über Monate in allen Zeitungen und im Fernsehen gewesen, sogar der Papst hatte sich dazu geäußert. Trotzdem war die Kleine nie gefunden worden.
Aber Mikas kommt zurück, sagte sie sich mit fester Stimme. Jeden anderen Gedanken ertrage ich nicht.
Ein Taxi fuhr auf den Parkplatz vor dem Haus. Unwillkürlich blickte Sigita auf die Uhr. Es war nach zwei Uhr nachts - ungewöhnlich. Eine Frau stieg aus und sah sich suchend um. Offensichtlich jemand, der zu Besuch kam und sich nicht auskannte. Dann ging sie auf das Haus zu, in dem Sigita wohnte.
Das ist sie, dachte Sigita plötzlich. Das ist Julija.
Sie sprang so schnell auf, dass sie mit dem nackten Fuß gegen den Türrahmen knallte und sich den großen Zeh stieß. Es tat weh, aber das war jetzt egal. Sie humpelte zur Gegensprechanlage und drückte auf den Türöffner, noch während es klingelte. Dann hinkte sie weiter in den Flur und sah zu, wie Julija Baronienė die Treppen zu ihr hochstieg.
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