Die Lieferung - Roman
nicht. Irgend so etwas.«
Sigita schüttelte nur den Kopf. »Darauf kann ich mir keinen Reim machen.« Dann blickte sie plötzlich auf. »Sie sagten, dass Sie die Mädchen nicht registrieren? Aber wie ist es mit denen, die die Kinder bekommen, werden die vermerkt?«
»Aber ja. Sonst könnten wir ja keine Geburtsurkunden ausstellen.«
»Gut, dann geben Sie mir seinen Namen.«
»Den Namen des Dänen?«
»Ja. Julija, das sind Sie mir schuldig. Und seine Adresse, wenn Sie können.«
Julija sah ängstlich aus. »Das kann ich nicht.«
»Doch, das können Sie. Sie haben es getan, um Zita zu retten. Jetzt müssen Sie mir helfen, meinen Sohn zu retten. Sonst …« Sigita musste schlucken, denn ihr gefiel nicht, was sie da tat. Aber jetzt ging es um Mikas. »Sonst bin ich doch gezwungen, zur Polizei zu gehen.«
»Sie haben es versprochen! Sie haben es beim Leib Jesu geschworen!«
»Ja. Und diesen Schwur möchte ich nur sehr ungern brechen.«
Julija sah aus wie ein gefangenes Tier. Es schmerzte, sie so zu sehen.
»Ich versuche es morgen früh«, versprach sie dann. »Bevor die Sekretärin kommt. Aber was, wenn ich es nicht finde?«
»Das werden Sie«, sagte Sigita. »Das werden Sie.«
Das Telefon klingelte kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen.
»Er heißt Jan Marquart«, sagte Julija. »Und ich habe auch eine Adresse.«
Nina wurde von lauten, rhythmischen Schlägen gegen die Scheibe geweckt und sah gerade noch eine vornübergebeugte Gestalt auf einem Fahrrad in Richtung Bahnhof an ihrem Auto vorbeischlingern. Der Himmel über der Reventlowsgade wurde langsam heller und nahm hinter dem Netz aus Straßenlaternen eine blassgraue Nuance an.
Ihr Nacken schmerzte und erinnerte sie daran, dass sie im Laufe der Nacht permanent mit dem Gewicht ihres Kopfes gekämpft hatte. Sie hatte keine bequeme Position gefunden, war aber trotzdem irgendwann eingeschlafen. Nina befreite vorsichtig die verkrampften Beine aus dem viel zu engen Winkel hinter dem Fahrersitz. Ihre Muskeln und Sehnen schmerzten, als sie die Tür öffnete und sich ausstreckte.
Der Junge schlief noch. Er hatte sich im Laufe der Nacht gedreht und lag mit seitlich ausgestreckten Armen und nach oben gewandten Handflächen da. Er schien vergessen zu haben, wo er war, dachte Nina neidvoll. Diese Gnade hatte ihr der Schlaf nicht beschert. Sie fühlte sich eigentlich genauso müde wie am Abend zuvor.
Sie stand umständlich auf, streckte die steifen Beine und machte ein paar Schritte ums Auto. Es waren noch über sechs Stunden bis zu ihrer Verabredung mit dem Mädchen aus der Helgolandsgade, und in wenigen Stunden würde die Sonne ganz Vesterbro in einen nach Diesel stinkenden Backofen verwandeln. Sie musste mit dem Jungen irgendwo anders hin, außerdem mussten sie sich waschen. Wenn sie sich bewegte,
stieg ihr der stechende, saure Geruch von altem Schweiß in die Nase. Sie fühlte sich verklebt und erschöpft. Der Junge auf der Rückbank bewegte sich leicht im Halbschlaf, reckte sich und lag einen Moment mit offenen Augen da. Erst starrte er auf die graue Rückenlehne, dann drehte er den Kopf und betrachtete Nina mit einer Mischung aus Wiedererkennen und Enttäuschung. Die weichen, entspannten Gesichtszüge, die der Schlaf ihm geschenkt hatte, verschwanden im Bruchteil einer Sekunde und machten verzweifelter Resignation Platz. Trotzdem glaubte Nina, eine minimale Veränderung in seinem Blick zu erkennen. Die Feindseligkeit war weg. Vielleicht gab es ja doch einen Hauch von Verbundenheit zwischen ihnen, nach allem, was sie am gestrigen Tag gemeinsam durchgestanden hatten. Karins leerer, stumpfer Blick und das geronnene Blut auf dem Bettzeug. Ihr panischer Sprint zum Auto, die Huren in der Helgolandsgade und das trockene Toastbrot.
Er wusste, an wen er sich zu halten hatte, nur nicht, warum.
Nina lächelte schwach. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Es war 5.43 Uhr, und bei dem Gedanken an einen weiteren langen, einsamen Tag mit dem Jungen spürte sie ihre letzten Kräfte schwinden. Komplett und unaufhaltsam.
Sie könnte nach Hause fahren.
Nach der gestrigen, stundenlangen Flucht hatte der Gedanke geradezu etwas Ketzerisches, aber es war ihr gelungen, das Gespräch mit Morten in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zurückzudrängen. Vielleicht war er gar nicht so wütend gewesen, wie es ihr vorgekommen war. Vielleicht verstand er ja sogar, weshalb sie den Jungen geholt und sich mit ihm abgesetzt hatte. Sie musste es ihm nur auf die richtige Weise
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