Die Lieferung - Roman
extravaganten Geruch erfüllte. Nina genoss den kurzen Augenblick des Luxus, die Wärme und den Duft. Ihre Haut prickelte weich und warm, und der Dampf hüllte sie ein und schlug sich auf Spiegel und Fliesen nieder. Sie schäumte eine neue Portion Seife auf und wusch sich damit schnell und energisch die Haare. Sie hatte sie erst vor kurzem schneiden lassen. Nicht so kurz wie Sinéad O’Connor, aber fast. Morten konnte es nicht verstehen, aber er musste sich ja auch nicht mit den viel zu kräftigen, krausen Haaren herumschlagen. Sie waren fast schulterlang gewesen, als sie zum Friseur ging, und die Erleichterung war enorm. Vor allem bei der Arbeit, weil sie endlich nicht mehr überlegen musste, welche Frisur politisch korrekt war. Viele der männlichen Bewohner des Kulhuslagers sahen die weiblichen Angestellten als eine Mischung aus Dienstbotinnen und Gefangenenwärterinnen, wodurch sie sich gleichermaßen
überlegen und gedemütigt fühlten. Die Erklärung stammte von einem der Lager-Psychologen, und vermutlich hatte er Recht. Häufig reichten Kleinigkeiten, um Konflikte auszulösen, weshalb Nina immer versuchte, möglichst neutral und so unweiblich wie möglich aufzutreten. Mit dem kurzen Herrenschnitt hatte sie im Umgang mit den männlichen Bewohnern des Lagers eine seltsame Erleichterung erfahren. Ganz offensichtlich war mit den Haaren ein Teil der Provokation verschwunden, den Nina wirklich nicht vermisste. Im Gegensatz zu Morten, aber sie richtete sich schon lange nicht mehr danach, wie er ihr Äußeres beurteilte.
Nina strich sich mit der nassen Hand über den Nabel und die ausgeprägten Bauchmuskeln, die die beiden Schwangerschaften überlebt hatten und ihrem Körper in all dem Wasserdampf etwas Knabenhaftes verliehen. Armer Morten.
Sie riss sich von ihren abschweifenden Gedanken los und begann eine der kleinen weißen Kinderbadewannen zu füllen, die im Duschraum standen. Der Junge ließ sich ausziehen und in die Wanne setzen. Dann hockte sie sich vor ihm hin und seifte ihm gründlich Schultern, Rücken und Füße ein. Sie vermied es bewusst, ihn auch an anderen Stellen zu berühren, sondern begnügte sich damit, ihn im warmen Wasser sitzen zu lassen und ihn abzuduschen. Der Junge verhielt sich überraschend ruhig. Seine Finger folgten voller Vertrauen den Strahlen des Wassers, die ihm über Brust und Bauch flossen, und als sich eine Seifenblase wie durch ein Wunder vom Rand der Wanne löste und schwer auf die nassen Fliesen fiel, warf er Nina ein überraschtes und begeistertes Lächeln zu. Das erste, seit ihre gemeinsame Reise tags zuvor begonnen hatte.
Nina spürte eine neue, fast warme Erleichterung im Bauch. Natürlich konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen, dazu wusste sie viel zu wenig über Pädophilie und sexuellen Missbrauch - aber es erschien ihr höchst unwahrscheinlich, dass der Junge
solchen Grausamkeiten ausgesetzt gewesen war. Sonst hätte er sich anders benommen, dachte Nina. Ängstlicher.
Die Erleichterung darüber, dass der Junge seelisch noch intakt war und gerettet werden konnte, war so enorm, dass sie ihr fast den Atem nahm.
Sie drehte das Wasser ab und trocknete ihn vorsichtig ab. Dann zogen sie sich still an, bevor Nina seine nassen Haare mit den Fingern kämmte.
Wer war er?
Geduldig betrachtete sie den Jungen, der darauf bestand, sich das T-Shirt selbst über den Kopf zu ziehen. Es war möglich, dass er für irgendeine Form des Missbrauchs nach Dänemark geschmuggelt worden war, aber hätte er dann in einem Koffer in einem Bahnhofsschließfach gelegen? Nina kannte sich mit dieser Art Verbrechen nicht aus. Sie war von den Auffanglagern vertraut mit menschlicher Erniedrigung und Brutalität, aber da lagen die Motive häufig offen zu Tage und die Methoden waren so simpel, dass selbst die dümmsten Verbrecher mithalten konnten. Man brauchte keinen Hochschultitel, um einem irakischen Familienvater, der schon den Großteil seines Besitzes an die Menschenschmuggler bezahlt hatte, die ihn an der Grenze abgesetzt hatten, das letzte Geld aus dem Leib zu prügeln. Und es war auch nicht sonderlich schwierig, junge osteuropäische Mädchen ins Land zu locken und sie auf der Skelbækgade auf den Strich zu schicken. Prügel, eine solide Gruppenvergewaltigung und ein Zettel mit der Adresse ihrer Eltern irgendwo in Estland reichten in der Regel aus, um sie gefügig zu machen. Die zynischen Ausbeuter hatten in dieser Welt, in der den meisten Menschen alles egal war, ein leichtes Spiel. Wer
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