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Die Lieferung - Roman

Die Lieferung - Roman

Titel: Die Lieferung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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kümmerte sich schon um die Illegalen im Land? Es hatte ja niemand darum gebeten, dass Flüchtlinge, Huren, Glücksritter und Waisen den Weg nach Dänemark suchten. Niemand hatte sie eingeladen, und niemand
wusste, wie viele es waren. Sie zählten nicht, und die Verbrechen, die an ihnen begangen wurden, hatten folglich nichts mit normalen Menschen zu tun und unterlagen nicht dem hiesigen Rechtssystem. Nur so ausgesprochen dumme Wesen wie Nina waren nicht in der Lage, so weit zu abstrahieren.
    Insbesondere wenn es um Kinder ging, war ihre Haut empfindlich dünn wie die erste, hellrote Hautschicht, die sich über einer tiefen, breiten Wunde bildete. Nach Idas Geburt war sie schon sensibel gewesen, doch seit Anton auf der Welt war, hatte ihre Empfindsamkeit beinahe monströse Formen angenommen. Sie wusste, dass sie sich das einbildete, aber manchmal hatte sie das Gefühl, die Blicke der Kinder im Kulhuslager klebten geradezu an ihr. Als würden sie erkennen, wie schutzlos sie war. Für Nina war es, als zerrten sie an ihrer Seele.
    Straßenkinder waren in der Regel älter als der Junge aus dem Koffer, dachte Nina. Die jüngsten waren meist zehn Jahre alt. Einige, insbesondere die aus Osteuropa, waren von ihren Eltern verkauft und dann von Hintermännern dazu ausgebildet worden, zu betteln, zu stehlen und aus den Auffanglagern auszubrechen, sollten sie auf der Straße aufgegriffen werden. Sie blieben im Lager, bis ihre Handys klingelten, dann waren sie weg. Sie fuhren mit der S-Bahn in die Stadt und wurden von der pulsierenden Unterwelt, aus der sie aufgetaucht waren, wieder aufgesaugt. Andere Kinder flohen weiter nach Schweden oder England. Den Angestellten im Lager gelang es in der Regel gerade einmal, sich einen vagen Eindruck von den Kindern zu verschaffen, bevor sie wieder verschwunden waren. Einige von ihnen waren auf dem Weg zu Familienangehörigen irgendwo in der Welt. Andere waren ganz offensichtlich mutterseelenallein und von ihren »Besitzern« nach Dänemark geschafft worden, um Geld ranzuschaffen.

    Aber der Junge im Koffer war noch zu klein, um jemand von Nutzen zu sein. Selbst für die skrupelloseste Diebesbande. Vielleicht war er eine Art Geisel, oder er sollte dazu dienen, sich Sozialhilfe zu erschwindeln. Solche Fälle waren bisher nur aus England bekannt.
    Er war hübsch, dachte Nina mit einem Mal. Sie wusste nicht, welche Bedeutung das für Pädophile hatte, aber diese Tatsache machte es vorstellbar, dass sich irgendein perverses Schwein einen kleinen osteuropäischen Jungen für ein bisschen unverbindliches Vergnügen bestellt hatte. So wie der Junge jetzt vor ihr stand - mit dem T-Shirt auf links und den neuen Sandalen straff an den schmalen Füßchen -, war der Gedanke an ihn im Bett eines wildfremden Mannes einfach unerträglich. Ihr wurde übel.
    Trotzdem zwang Nina sich zu einem Lächeln.
    Wo würde er landen, wenn sie ihn bei der Polizei abgab und sich seine Spuren im Sand verliefen? In einem Kinderheim in Litauen oder vielleicht wieder bei dem Verwandten, der ihn gerade höchstbietend verkauft hatte? Vielleicht bei einem großen, kahl geschorenen Stiefvater mit breiten Bärenschultern und kräftigen Händen? Dem Typ, der gerade Karin umgebracht hatte? Nina lief ein Schauer über den Rücken.
    Sie öffnete die Tür des Duschraums und nahm den Jungen fest an die Hand. Sie musste Frühstück besorgen und dann herausfinden, welche Kirche mit Sacred Heart gemeint war. Sie mussten das Mädchen aus der Helgolandsgade finden.

     
    Die Adresse war - wie konnte es anders sein - in Dänemark. Sigita fragte sich, wie sie auf den dummen Gedanken gekommen war, der Däne könnte in Litauen leben. Sie starrte auf die Buchstaben und überlegte, was sie tun könnte.
    Gužas hatte eine halbe Stunde vor Julija angerufen und sich erkundigt, ob sie ihre Meinung über eine Fernsehaufnahme geändert hatte oder ob die Entführer mit ihr Kontakt aufgenommen hätten. Sie verneinte beides, erzählte ihm aber nichts von Julija und Zita oder dem Dänen.
    Ich muss selbst nach Dänemark, dachte sie. Ich muss den Mann finden und ihn fragen, was ich tun muss, um Mikas zurückzubekommen.
    Ein Gedanke aber nagte an ihr: Was, wenn sie gar nichts tun sollte? Wenn der Däne bereits bekommen hatte, was er wollte, und sie ihm vollkommen egal war?
    Er sammelt meine Kinder, dachte sie mit eiskaltem Grauen. Jetzt hat er alle zwei.
    Das andere Kind war ihr im Traum erschienen, wenn es ihr ausnahmsweise gelang, ein bisschen zu schlafen.

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