Die Lieferung - Roman
das Richtige zu tun. Vielleicht war der Junge in einer der sozialen Einrichtungen draußen in Amager ja doch besser aufgehoben und der Mann vom Bahnhof bald nur noch eine schlechte Erinnerung in einer ansonsten glücklichen und sicheren Kindheit. Die Sozialarbeiter konnten auf Dolmetscher zurückgreifen und mussten nicht nach litauischen Huren suchen. Hatte der Junge irgendwo eine gute und liebende Mutter, würden sie sie sicher finden.
Weiß Gott, nur zu gern hätte sie daran geglaubt. Nina versuchte tagtäglich, sich in etwas mehr Gleichgültigkeit zu üben. Das heißt - nicht wirklich Gleichgültigkeit. Eigentlich wünschte sie sich ein kleidsames, zivilisiertes Engagement, das sie ablegen konnte, wenn sie zu Morten und den Kindern nach Hause kam, und das sich rationalisieren und mit sachlichen und wohlklingenden humanistischen Floskeln begründen ließ. Im Augenblick fühlte sie sich eher wie eine der hysterischen Aktivistinnen des Tierschutzbundes. Verzweifelt. Dabei gab es durchaus auch gute Phasen, aber jedes Mal, wenn sie glaubte, endgültig zur Ruhe gekommen zu sein, kam irgendeine Natasha oder Rina, eine Zaide oder Li Hua, und alles war hinfällig. Dann kratzte die Wirklichkeit wieder wie Schleifpapier über ihre Haut.
Nina wühlte tief in ihrem überanstrengten Gehirn, wobei sie ihren Blick fest auf die braune, massive Haustür richtete.
Sie konnte tun, was alle anderen an ihrer Stelle getan hätten, und den Jungen der Polizei übergeben. Mit der sicheren Überzeugung, alles getan zu haben, was man von einem erwachsenen, verantwortungsbewussten Menschen verlangen kann. Hinterher würde sie Morten eine Erklärung geben. Gefolgt von dem vertrauten und sicheren Streit über Prioritäten im Familienleben, seine Sorge um ihr Befinden, und zu guter Letzt die erlösenden Tränen und die Nähe. Ihre Hand, die die tiefen Furchen auf seiner Stirn glatt strich und weiter über die markanten Kieferknochen in den feuchten Nacken wanderte.
All dies konnte sie haben, wenn sie zu glauben bereit war, was alle anderen offenbar problemlos glaubten. Dass Dänemark ein sicherer Hafen für die benachteiligten Geschöpfe dieser Welt war.
Nina stieg aus dem Auto, schloss sorgsam die Tür und blieb mit dem Blick auf das erleuchtete Fenster stehen. Jemand lief nervös hin und her, wie ein Raubtier in einem viel zu engen Käfig. Mit einem Anflug von Gewissensbissen erkannte sie Mortens lange, athletische Gestalt. Im nächsten Augenblick war ein kleiner, untersetzter Mann zu sehen, der mit ruhigen, behutsamen Bewegungen gestikulierte.
Ein Profi, dachte Nina verbissen und merkte, wie ihr innerer Widerstand wuchs. Morten hatte Besuch von einem dieser Polizisten, die einen Kurs absolviert hatten, wie Angehörige in Stresssituationen am besten zu beruhigen sind.
Wahrscheinlich sagte er Dinge wie »Wir tun alles in unserer Macht Stehende, und wir sind sehr erfolgreich« oder: »Vertrauen Sie uns. Die dänische Polizei ist absolut professionell, Sie können uns ruhig sagen, wo Nina ist.«
Genau das Gleiche würde er vermutlich sagen, wenn sie ihm den Jungen übergab. »Wir werden alles tun, um herauszufinden, was geschehen ist.«
Morten drehte sich um, und als er direkt ans Fenster trat,
machte sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Hatte er sie gesehen? Es war inzwischen ziemlich hell, aber sie stand ein ganzes Stück entfernt, und das Auto war hinter mehreren anderen Wagen verborgen. Er stand eine Weile reglos als dunkle Silhouette in dem hellen Rechteck, ehe er den Kopf zur Seite drehte und ihr die Zeit gab, die sie brauchte. Mit einem Satz war sie wieder im Auto, zog die Tür zu und legte den Gang ein. Der Wagen hoppelte auf die Straße und soff ab. Sie hatte vergessen, die Handbremse zu lösen. Fluchend löste sie die Bremse und startete den Motor neu. Ihr Körper hatte sich bereits wieder auf Flucht eingestellt. Jetzt gab es keinen Weg zurück.
Hatte Morten sie gesehen? Und wenn ja, würde er dem Polizisten etwas davon sagen?
Nina erinnerte sich, wie Morten, vor mehr als tausend Jahren, nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, seine Hand zärtlich um ihr Kinn gelegt und ihr Gesicht ganz nah an seins gezogen hatte. Damals hatte er ihr vertraut. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher, ob er sie fahren lassen würde, auch wenn sie es glaubte. Hoffte.
Nina warf rasch einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass das Polizeiauto weiterhin unbemannt und mit ausgeschaltetem Blaulicht vor dem Haus
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