Die Lieferung - Roman
Marija an und antwortete etwas.
Sie nickte und legte vorsichtig eine Hand unter sein Kinn, damit er sie ansah. Dann fragte sie wieder etwas, und dieses Mal sah es aus, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über dem Jungen ausgeschüttet. Sein Gesicht versteinerte sich genauso schnell, wie es sich kurz zuvor geöffnet hatte, und mit leiser, dünner Stimme sagte er etwas, das Marija kaum zu verstehen schien. Er riss sich aus ihrem sanften Griff los und lief zum Wasser.
Nina glaubte, so etwas wie einen Vorwurf in Marijas Blick zu sehen, als diese zu ihr rübersah, als wäre das alles Ninas Schuld. Zumindest die Frage, die Marija ihm auf ihr Geheiß hatte stellen sollen.
Nina stand schnell auf und lief eilig hinter dem Jungen her. An der Wasserkante holte sie ihn ein und hob ihn vorsichtig hoch. Im ersten Augenblick trat er ihr wütend mit den nackten Füßen gegen die Schienbeine, doch dann gab er den Kampf auf und lag schlaff und passiv an ihrer Schulter, als sie ihn zurück zu den zerknüllten Handtüchern trug. Marija war aufgestanden und begann mit schnellen, hektischen Bewegungen, ihre Kleider anzuziehen.
»Was ist mit seiner Mutter?«
Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft, als Marija ihre enge Jeans zuknöpfte, ohne aufzuschauen.
»Marija.«
Nina legte eine Hand auf Marijas Unterarm, und endlich hörte das Mädchen auf, an seiner Hose herumzufummeln. Es sah Nina an.
»Sorry.«
Marija atmete tief ein.
»Das hat ihn so traurig gemacht. Das will ich nicht.«
Sie zeigte auf Mikas und danach auf sich, als ob das alles erklären würde. Nina schüttelte den Kopf.
»Was hat er über seine Mutter gesagt?«
»Ich habe nicht alles verstanden. Kinder beantworten nur die Fragen, die sie beantworten wollen«, sagte Marija entschuldigend. »Aber er hat gesagt, dass er mit seiner Mutter zusammenlebt, dass sie lieb ist, aber dass er es nicht geschafft hat, sie zu wecken.«
Nina zog die Stirn in Falten und sah Marija skeptisch an.
War Mikas’ Mutter krank gewesen? Oder bewusstlos? Und hatte das, was er sagte, überhaupt etwas mit seiner unfreiwilligen Reise nach Dänemark zu tun? Dreijährige hatten, soweit Nina sich erinnerte, ein ziemlich unkonkretes Zeitempfinden. Sie verfluchte ihre sprachliche Ohnmacht.
Sie wollte wissen, ob es die Mutter war, die ihn verkauft hatte. Sie wusste, dass so etwas vorkam. »Wie wurden sie getrennt? Hat er darüber etwas gesagt?«
Marija zog die kunstvoll gezupften Augenbrauen hoch.
»Er hat gesagt, die Schokoladenfrau hätte ihn mitgenommen. Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Vermisst er seine Mutter? Möchte er gerne zurück zu ihr?«
Marija erstarrte. Dann sah sie Nina mit leerem Blick an.
»Natürlich vermisst er seine Mutter. Er ist doch noch ein kleines Kind.«
» Sunny Beach, Sonne und Wellness« stand auf der Glastür, die in die Kelleretage führte. »Neue Sonnenbänke«. Drinnen gab es eine Art Empfangstresen, hinter dem eine dunkelhaarige Frau saß und telefonierte. Jučas kannte die Sprache nicht, die sie sprach. Auf jeden Fall war es kein Litauisch, aber das wäre ja auch verwunderlich gewesen. Sie trug einen weißen Kittel wie eine Krankenschwester oder Arzthelferin, und Jučas fragte sich, ob sie für eine Hure nicht schon zu alt war. Vielleicht gab es hier wirklich Solarien.
Die Frau ließ den Hörer für einen Augenblick sinken und fragte ihn etwas, das er aber nicht verstand.
»Bukovski«, sagte er. »I have to see Bukovski.«
»Wait«, antwortete sie. »Name?«
Ein Blick von ihm reichte, und ihre Bewegungen wurden hektischer und nervöser. Sie verschwand im Hinterzimmer, um gleich darauf zurückzukommen.
»You go in«, sagte sie.
Die Räumlichkeiten waren überraschend groß. Es gab zwar keine Fenster, aber die Klimaanlage war gut und die Luft kühl, ja, beinahe frisch. Es gab ein paar Spinningbikes und zwei Laufbänder, der Großteil des Raumes wurde allerdings von guten alten TechnoGym-Maschinen und einem Raum für Gewichte eingenommen. Das war kein pastellfarbenes Fitnesscenter für 40-jährige Frauen mit Fettphobie oder Männer mittleren Alters, die der Illusion nachhingen, ein gesundes Leben zu führen. Das hier war eine richtige Muckibude,
die grauen, abgenutzten Nadelfilzfliesen waren gesättigt von Testosteron, so dass Jučas sich gleich zu Hause fühlte.
Dimitri Bukovski kam ihm mit weit geöffneten Armen entgegen.
»My friend«, sagte er. »Long time no see.«
Sie umarmten einander und klopften sich in guter alter
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