Die Lieferung - Roman
von ihm stammten. Immerhin war Marija erst sieben Wochen hier, und die Narben sahen gut verheilt aus.
Das Mädchen, das Ninas Blick bemerkt hatte, strich sich diskret mit einer Hand über den Oberschenkel. Dann sprang sie plötzlich auf und warf den Kopf in den Nacken.
»I go swim. Just a quick one.«
Nina nickte und lächelte, als Marija das T-Shirt über den Kopf zog und ihr weißer Baumwoll-BH mit breiten Schulterriemchen zum Vorschein kam. Schon drängte sich das nächste unwillkommene Bild auf - diesmal von Ida, die an einem Abend in der letzten Woche in ihrem winzigen Zimmer gestanden hatte.
Sie hatte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten oder um Rat zu fragen, einen BH gekauft, eines dieser extrem strammen Sportmodelle. Irgendwann war es eben so weit. Ida war sehr viel früher entwickelt als ihre Mutter. Nina und Morten hatten sogar Scherze darüber gemacht, dass Ida jetzt bereits eine größere Oberweite hatte, als Nina sie jemals gehabt hatte. Und trotzdem war Nina in diesem Moment ganz schön überrumpelt gewesen.
Sie schüttelte den Kopf. Worum hätte Ida sie eigentlich um Erlaubnis fragen sollen? Ob sie erwachsen werden durfte?
Marija drehte sich um und rannte in Unterhose und BH ins Wasser. Sie warf sich nach vorne, und ihr Körper und ihre
Arme bildeten einen perfekten Bogen, als sie durch die Luft schoss und mit den Händen zuerst ins Wasser tauchte. Etliche Meter weiter weg tauchte sie wieder auf und machte ein paar routinierte Kraulzüge, ehe sie sich auf den Rücken drehte und begeistert mit den Beinen im Wasser strampelte.
»You come, too«, rief sie und lächelte zum ersten Mal ein echtes Lächeln. »Ateik čia.«
Der Junge stellte seine Baggerarbeiten ein und folgte Marija neugierig mit den Augen. In seinem Blick schien sich etwas zu lösen. Er sah Nina fragend an, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Er bat sie um Erlaubnis.
Nina nickte kurz und zog den Jungen durch den Sand zu sich rüber, damit sie ihm aus dem T-Shirt und der Unterhose helfen konnte. Als sie ihn losließ, trippelte er eifrig über den feuchten, festen Strandstreifen und steckte vorsichtig die Zehen in die seichten Wellen. Er stieß ein langgezogenes, begeistertes Heulen aus, als ihm eine etwas größere Welle über Füße und Knöchel schwappte, dann nahm er allen Mut zusammen und ging noch ein paar Schritte weiter ins Wasser. Er stolperte und landete mit einer Mischung aus Begeisterung und Schrecken auf seinem Hinterteil. Marija war mit ein paar Schritten bei ihm und zog ihn hoch. Nina hörte, dass die beiden sich unterhielten. Marija sagte etwas, und der Junge antwortete mit der typisch quengeligen Stimme von Kindern, die Hilfe brauchten. Das Mädchen lächelte und wuschelte ihm durch das kurze, flachsblonde Haar, das ihm danach lustig vom Kopf abstand. Dann sagte sie wieder etwas, fasste den Jungen an beiden Händen und zog ihn vor sich hin und her durchs Wasser. Der Junge gluckste und lachte, so dass man seine weißen Milchzähne sehen konnte. Auch Marija lachte laut, wie ein kleines Mädchen. Sie schaute zu Nina und winkte mit einer Hand.
»Come«, rief sie. »Very nice.«
Nina winkte zurück und schüttelte lächelnd den Kopf. Sie
wollte den Jungen und Marija alleine lassen. Es war deutlich zu erkennen, dass der Junge jemand vermisst hatte, mit dem er reden konnte, den er verstand und der ihn verstand. Vielleicht galt das auch für Marija, dachte Nina, als sie sah, wie glücklich das große, schlanke Mädchen im Wasser herumtobte. Auch sie bekam sicherlich nicht jeden Tag ihre Muttersprache zu hören. Es gab keinen Grund für Nina, sich jetzt einzumischen. Marija kannte ihre Aufgabe. Sie sollte das Vertrauen des Jungen gewinnen und herauszufinden versuchen, wo er herkam. Jede Information war wichtig, hatte Nina ihr gesagt: sein Name, wo er wohnte, ein Straßenname. Egal was, wenn es ihr nur half, den Jungen aus dem leeren Universum zu holen, in dem er momentan noch schwebte, und den Ort zu finden, von dem er kam.
Marija hatte nicht nach dem Warum gefragt, und Nina vermutete, dass das Mädchen in der kurzen Zeit in Dänemark gelernt hatte, dass es manchmal besser war, nicht zu viel zu wissen. Dass sie eingewilligt hatte, ihr zu helfen, nachdem der Mann mit der Schlangentätowierung sie sich vorgenommen hatte, grenzte an ein Wunder, dachte Nina.
Und jetzt entfaltete sich vor ihren Augen offenbar das nächste kleine Wunder.
Marija sagte etwas zu dem Jungen, worauf dieser sich unter Schreien und ausgelassenem Lachen
Weitere Kostenlose Bücher