Die Lieferung - Roman
irgendetwas auf Dänisch gesagt, woraufhin sein Gesicht sich erhellt hatte und er mit einem enthusiastischen »Yessssss!« davongestürmt war. Sigita dachte, dass er sicher die Erlaubnis für irgendetwas erhalten hatte, das sonst streng reguliert war. Video? Computerspiele? Ganz offensichtlich war die Familie reich genug, um ihm alles zu bieten, was er sich wünschte. Sigita versetzte dieser Gedanke einen Stich. Was, wenn Mikas irgendwann herausfand, dass er einen großen Bruder hatte, der ein solches Leben führte? Würde er neidisch sein?
Plötzlich meldete sich die Angst um Mikas wieder mit voller Wucht.
»Ich komme nicht wegen Aleksander«, sagte sie. »Sondern wegen Mikas. Meinem eigenen kleinen Jungen. Ist er hier? Haben Sie ihn gesehen?«
Anne Marquart sah überrumpelt aus.
»Ein kleiner Junge? Nein. Ich … Soll das heißen, dass Sie noch ein Kind haben?«
»Ja, Mikas. Er ist jetzt drei Jahre alt.«
Irgendetwas ging in Anne Marquarts Kopf vor. Sie saß vollkommen still da und starrte in ihre Teetasse, als suche sie darin eine tiefere Wahrheit. Dann hob sie abrupt den Kopf.
»Vom gleichen Vater?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Sigita und verstand die Intensität nicht, die in Anne Marquarts Frage lag.
»O mein Gott«, sagte Anne leise. »Er ist doch erst drei Jahre alt …«
Sigita sah verdutzt Tränen über Frau Marquarts Gesicht rollen.
»Das ist nicht gerecht …«, flüsterte sie. »Das geht doch nicht!«
»Ich verstehe nicht …«, sagte Sigita zögernd.
»Sie haben doch bestimmt bemerkt, dass Aleksander krank ist?«
»Ja.« Das war nicht zu übersehen gewesen.
»Er leidet an einer Krankheit, die man Nephrotisches Syndrom nennt. Seine Nieren haben fast vollkommen aufgehört zu arbeiten. Er muss zweimal in der Woche in die Dialyse. Wir haben eine Art Praxis im Keller, so dass er nicht immer den weiten Weg ins Krankenhaus machen muss, aber trotzdem … Er beklagt sich fast nie, aber das ist so hart für ein Kind. Und … und die Dialyse schlägt nicht mehr richtig an.«
»Kann er denn keine neue Niere bekommen?«, fragte Sigita.
»Wir haben es versucht. Mein Mann hat ihm eine seiner Nieren gespendet, aber … aber wir sind ja nicht … nicht biologisch mit ihm verwandt. Und Aleksander hat sie trotz all der Medizin abgestoßen … und jetzt ist er noch kränker als vorher …«
In diesem Moment begriff Sigita, warum Jan Marquart nach ihr gesucht hatte. Und warum ihr Sohn verschwunden war.
Der Junge saß mit halb geschlossenen Augenlidern auf der Rückbank und reagierte nicht, als Nina das Auto in der Fejøgade parkte. Die Polizisten waren weg, und die Fenster im oberen Stockwerk glänzten blank und leer. Entweder war Morten noch nicht wieder zu Hause oder er hatte die Kinder zu seiner Schwester nach Greve gefahren, dachte Nina zerstreut. Immer, wenn eine Krise anstand, wollte er sie am liebsten aus dem Weg haben. Sie sollten es nicht mitbekommen, wenn es Streit gab oder er die Beherrschung verlor. Und jetzt war er vermutlich kurz davor.
Nina schloss die Augen und spürte in einem abgelegenen Winkel ihres Bewusstseins ihr schlechtes Gewissen brennen. Heute Abend würde sie ihm alles erklären. Seinen Kopf auf ihren Schoß legen, ihm über die Stirn streichen und ihm erklären, wieso er sich keine Sorgen mehr machen musste. Vielleicht konnten die Kinder ja bei Hanne und Peter übernachten.
Sie hob Mikas vorsichtig aus dem Wagen und trug ihn in die obere Etage. Der Junge war wach, aber müde und kraftlos, als hätte er all seine Energie am Strand gelassen. Er rührte sich nicht, als sie vorsichtig die Schlüssel aus der Hosentasche zog und lautlos die Tür aufschloss. Aus der Nachbarwohnung der Jensens hörte sie das gedämpfte Getöse von einem Videospiel und das Klappern von Töpfen aus der Küche. Sie wollte auf keinen Fall gesehen werden. Nicht jetzt.
Die Wohnung war kühl und still, und zum ersten Mal,
seit sie gestern den Koffer aus dem Schließfach geholt hatte, merkte Nina, dass sie richtig Hunger hatte. Sie streifte im Flur die Sandalen von den Füßen, ging barfuß ins Wohnzimmer und setzte Mikas auf dem Sofa ab.
Auf dem niedrigen Clubtisch vor dem Fernseher standen noch die Reste vom Frühstück der Kinder. Zwei Schalen mit abgestandener Milch und aufgeweichten Cornflakes. Die Zeitung lag ungelesen auf dem Boden. Sie trug die Schüsseln in die Küche, leerte die Reste in den Abfalleimer und stellte alles in die Geschirrspülmaschine. Danach machte sie eine neue Schale
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