Die Lieferung - Roman
Rolle. Noch nicht.
In gewisser Weise hatte sie es bereits geahnt, als der Junge draußen am Ferienhäuschen nach seiner Mutter gerufen hatte. Aber jetzt wusste sie es mit Sicherheit.
Der Junge stammte nicht aus einem Kinderheim in der Ukraine oder in Moskau. Er war nicht elternlos, und er war auch nicht allein auf der Welt. Er hatte eine Mutter, und was er Marija erzählt hatte, deutete darauf hin, dass er entführt worden war. Nicht verkauft, verliehen oder ausgesetzt, sondern gekidnappt. Irgendwie war er in den Händen des Mannes gelandet, der Karin ermordet hatte. Wie und warum, wusste der Teufel, aber das war auch nicht Ninas Problem. Wenn die Mutter des Jungen noch am Leben war, hatte sie ihn vermutlich bei der litauischen Polizei als vermisst gemeldet, und dann sollte es ein Leichtes sein, den Jungen zu Mama Ramoskienė, dem Kindergarten und den litauischen Trolleybussen zurückzuschicken. Dazu sollte sogar die dänische Polizei in der Lage sein. In der Regel war sie ja überraschend effektiv, wenn es darum ging, Menschen aus dem Land zu schaffen. Vielleicht würden sie sogar herausfinden, wer hinter der Entführung stand. Wenn schon nicht wegen des Jungen, dann doch wenigstens wegen Karin. Niemand beging ungestraft einen Mord an einer dänischen Staatsbürgerin.
So einfach war das also.
Nina spürte, wie sich in ihrem Körper eine warme, angenehme Ruhe ausbreitete.
Sie könnte den Jungen mit zu sich nach Hause nehmen und von dort aus die Polizei anrufen. Vermutlich durfte sie ihn bei sich behalten, während die Polizei den Informationen nachging, die sie von Mikas und Marija erhalten hatte. Nina wusste aus Erfahrung, dass ihre Hartnäckigkeit recht überzeugend wirken konnte, wenn es darauf ankam. Außerdem sollte niemand behaupten, dass dem Jungen besser gedient wäre, wenn man ihm irgendeinen ausgebrannten Sozialpädagogen an die
Seite stellte. Sie würde bei dem Kind bleiben, damit es nicht allein unter Fremden war, bis seine Mutter aus Vilnius eingeflogen werden und es endlich wieder in die Arme schließen konnte.
Nina stellte sich vor, wie die Mutter unter Tränen Ninas Hände nahm und ihr lächelnd einen wortlosen Dank zukommen ließ. Plötzlich spürte sie, dass auch ihr die Tränen kamen. Dabei weinte sie eigentlich nur selten, und ganz sicher nicht, wenn etwas geklappt hatte. Freudentränen waren etwas für alte Frauen.
Wahrscheinlich erlebst du einfach zu wenig Happy Ends, Nina. Kann das sein? , flüsterte ihr eine leise, zynische Stimme zu. Wirklich glücklich gehen deine Geschichten doch nie aus .
»Dieses Mal schon«, murmelte Nina trotzig.
Große Häuser schüchterten Sigita ein. Vielleicht weil sie glaubte, dass die Menschen, die darin wohnten, die Autorität und Macht besaßen, Entscheidungen zu fällen, zu verurteilen und zu diffamieren. Sie konnte sich selbst noch so oft sagen, dass sie genauso viel wert war wie diese Menschen, doch ein kleiner Teil von ihr schien nicht darauf zu hören.
Das Haus, vor dem sie nun stand, war so groß, dass man es nicht in seiner Gänze sehen konnte. Es lag abgelegen an einem Hang mit Blick aufs Meer und war ringsherum von einer weißen Mauer umgeben. Wie eine Burg. Sie stellte überrascht fest, dass das Tor offen stand, so dass man einfach hineingehen konnte. Warum baute man dann eine Festung?
Das Taxi war weg. Sie war noch immer erschüttert, wie teuer die Fahrt gewesen war. Dass es wirklich so viel teurer sein konnte, 100 km in einem Auto zu fahren, als den ganzen Weg von Litauen nach Dänemark zu fliegen! Von Jolitas Geld war kaum noch etwas übrig. Ich hätte alles nehmen sollen, dachte sie. Aber das Gefühl, gestohlen zu haben, war erträglicher, weil sie nicht alles genommen hatte. Und zu guter Letzt hatte Jolita ja auch eingewilligt.
Jetzt stand Sigita hier und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie wirklich am Ziel war. Aber auf der Messingplatte an der weißen Mauer stand der richtige Name: MARQUART. Hier wohnte der Mann, der ihre Kinder sammelte. Aber sie wusste nicht, ob das tatsächlich bedeutete, dass Mikas hier war.
Es war völlig sinnlos, sich zum Haus zu schleichen - die diskret versteckten Überwachungskameras hatten ihr Kommen längst gefilmt. Sie begann die breite Auffahrt zu der weißen Burg emporzugehen, drückte auf den Klingelknopf und hörte eine fröhliche kleine Melodie auf der anderen Seite der Tür erklingen. Irgendwie passte sie nicht zu den hohen weißen Mauern, den
Weitere Kostenlose Bücher