Die Lieferung - Roman
endlosen Grasflächen und der schweren Teakholztür. Jetzt waren Schritte zu hören, und die Tür wurde geöffnet.
Ein Junge stand auf der Türschwelle. Sigita wusste sofort, wen sie vor sich hatte, denn er sah Mikas unglaublich ähnlich.
»Hej«, sagte er und fügte dann noch etwas hinzu, von dem sie kein Wort verstand.
Sie konnte ihn nur sprachlos anstarren. Er trug Jeans und T-Shirt und ein paar glänzend rote Ferrari-Schuhe. Auf dem Kopf hatte er ein passendes Ferrari-Cap, natürlich mit dem Schirm im Nacken. Er war für seine acht Jahre klein und dünn, ja, fast mager. Trotzdem wirkte sein Gesicht seltsam aufgedunsen, und auch die Sonnenbräune konnte die Blässe seiner Haut, insbesondere unter den Augen, nicht kaschieren. An einem Arm trug er eine weiße Mullbinde, unter der sie die Kontur einer festgeklebten Kanüle erkennen konnte. Er ist krank, dachte sie. Mein Sohn ist sehr, sehr krank. Was ist in diesem fremden Land mit ihm passiert?
Er sagte wieder etwas, und aus der Betonung entnahm sie, dass es sich um eine Frage handeln musste.
»Ist dein Vater oder deine Mutter zu Hause?«, fragte sie, und es dauerte eine Weile, bis ihr ernsthaft bewusst wurde, dass der Junge natürlich kein Litauisch verstand.
Er sah Mikas unglaublich ähnlich, und in seinen Augen und seinem Lächeln erkannte sie Darius wieder. Es kam ihr vollkommen absurd vor, nicht mit ihm sprechen zu können.
»Is your father at home? Or your mother?«, versuchte sie
und dachte im gleichen Augenblick, dass er noch viel zu klein war, um schon Englisch zu verstehen. Aber er nickte.
»Mother«, antwortete er. »Wait.«
Und dann verschwand er wieder im Haus.
Kurz darauf kam er mit einer beinahe ebenso dünnen Frau Mitte 40 wieder. Sigita betrachtete die Person, die jetzt die Mutter ihres Sohnes war. Sie trug eine blassrosa Bluse über einer weißen Jeans. Überhaupt wirkte sie zart und pastellartig und irgendwie zögerlich, als würde sie sich in ihrem eigenen Haus nicht ganz zu Hause fühlen. Wie der Junge war sie sonnengebräunt und blond, so dass niemand daran zweifeln würde, dass sie Mutter und Sohn waren.
»Anne Marquart«, sagte sie und reichte Sigita die Hand. »How may I help you?«
Als sie Sigita ins Gesicht sah, geriet sie ins Stocken. Es musste die gleiche Erkenntnis sein, die Sigita beim Anblick des Jungen gekommen war. Die genetischen Spuren, die sich nicht verwischen ließen. Sie sah die Züge ihres Sohnes in Sigitas Gesicht und brauste auf.
»Nein. Go away!«, sagte sie und schob die Tür zu.
Sigita trat einen Schritt vor. »Please«, bat sie. »I just want to talk. Please …!«
»Talk …?«, fragte die Frau und öffnete die Tür langsam wieder. »Yes, perhaps we’d better.«
Das Fenster zog sich vom Boden bis zur Decke über die ganze Breite des Raumes und ließ den Himmel und das Meer bis ins Wohnzimmer. Es war fast zu viel, fand Sigita, insbesondere jetzt, da Wind aufgekommen war und die Wellen weiße Schaumkronen hatten. Hatten sie hier keine Gardinen? Ein Haus war schließlich dazu da, die Natur auf Abstand zu halten.
Der Raum war riesengroß. Am einen Ende war ein Kamin,
den Anne Marquart mit Hilfe einer Fernbedienung anzündete, als handelte es sich um einen Fernseher. Der Boden bestand aus blaugrauen Steinfliesen, wie Sigita sie noch nie gesehen hatte. In der Mitte des Raumes, meterweit von allem anderen entfernt, stand ein hufeisenförmiges knallrotes Ledersofa. Sie fühlte sich wie in einem dieser Räume, die die Fotografen der Modezeitschriften aussuchten, um darin ihre Aufnahmen zu machen. Aber die Sterilität und Geradlinigkeit des Zimmers übertrafen selbst ihren Drang nach Ordnung, und sie fühlte sich inmitten dieses steinernen Ballsaals unwohl.
»Er heißt Aleksander«, sagte Anne Marquart in ihrem klaren, britischen Englisch, das so viel korrekter klang als Sigitas. »Und er ist ein fantastischer Junge - gehorsam, mutig und klug. Ich liebe ihn von ganzem Herzen.«
Etwas löste sich in Sigita. Uralte Knoten, eine uralte Schuld. Danke, flüsterte sie tief in ihrem Inneren. Heilige Muttergottes, danke für diesen Augenblick. Was auch immer noch geschehen mochte, so wusste sie jetzt wenigstens, dass ihr Erstgeborener nicht einsam und elend irgendwo im Dunkeln vor sich hin vegetierte wie der nackte Säugling aus ihren Alpträumen. Er hieß Aleksander, und er hatte eine Mutter, die ihn liebte.
Der Junge war in der Zwischenzeit verschwunden, sie wusste nicht, wohin. Anne Marquart hatte ihm
Weitere Kostenlose Bücher