Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
Fernsehschminke konnte ihre Augenringe nicht verbergen. Sie sah müde aus. Aber ihre Stimme demonstrierte Entschlossenheit. Es war, als ob sie im fernen Hamburg den Hass und die feindselige Stimmung erahnen konnte. Sie erinnerte in ihrer Rede die Menschen an die früheren Nachkriegsjahre, die Generationen vor ihnen so stoisch und geradlinig bewältigt hatten. Sie sprach von Hilfe aus dem Ausland und davon, dass nun jeder seine deutschen Tugenden unter Beweis stellen müsse. In der größten Not stünden die Deutschen zusammen. Bilder der Flutkatastrophen aus den 90er Jahren wurden eingespielt. Immer mehr verkam ihre Rede zu einem Wahlkampfspot. Wer immer das empfohlen hatte, kannte die Verzweiflung der Menschen im Land nicht. Langsam drohte die Stimmung im Zelt zu kippen. Die Menschen standen auf den Biertischen, schrien, stachelten sich gegenseitig an und warfen immer größere Gegenstände in Richtung Monitore. Eine Wasserflasche zerbarst am Rand eines Flachbildschirms. Sofort verliefen die Farben des Bildes zu einem unnatürlichen Grün. Es sah aus, als ob die Kanzlerin damit zeigen wollte, dass sie im sicheren grünen Bereich lebte.
Wut stieg in Jan auf. Plötzlich wurde ihm klar, dass er von dieser Frau da vorne keine Hilfe zu erwarten hatte. Er musste seine Rettung und die seiner Nichte selbst in die Hand nehmen. In einer Ecke schlugen sich bereits die ersten Streithähne. Jan kam gerade noch rechtzeitig aus dem Zelt, bevor ein Zug Militärpolizisten mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf die Eingänge zustürmte. Er musste jetzt fliehen, diese Entscheidung stand fest. Das hier war nur ein Ort des Todes. Hier würden bald alle verrecken. Immer mehr Kranke wurden hereingebracht, immer weniger konnten adäquat versorgt werden, und somit starben immer mehr. Als Arzt hatte er einen guten Blick für Situationen,die kippten. Dies hier war so eine. Aber er würde seine Nichte mitnehmen. Nie mehr würde er ein Kind verlieren. Hass gegen sich selbst, gegen die Krankheit, gegen das Lager stieg in ihm auf. Er hatte schon am Morgen an seinem Feldbett einen Bauchbeutel mit Wertsachen und Pässen zusammen mit dem kleinen GPS -Gerät deponiert und mit einem stabilen Schloss an das Bett gekettet. Elijah hatte ihm das GPS überreicht, ihm eine kleine Einweisung gegeben und gehofft, dass der Arzt damit zurechtkommen würde. Das war sein Überlebenspäckchen, sein Ticket in die Freiheit. Er hatte es unter Mühen an den Kontrollen vorbeigeschmuggelt. Neben ihm im Zelt lag ein alter Mann aus Bentheim, der die Nichte kannte und dem er vertraute. Der passte darauf auf.
Aber vorher musste er erst unbemerkt Kleidung aus der Halle und danach seine Nichte holen. Beides war hochriskant. Am frühen Abend hatte die Leitung, aufgrund von Vorfällen wie diesem gerade im Zelt, beschlossen, im Lager einen Extrabereich für Renitente und Fluchtwillige einzurichten. Es sollte dort weniger Verpflegung und schlechtere medizinische Versorgung geben, das besagten jedenfalls die Scheißhausparolen, die umgingen. Das würde er seiner Nichte nicht antun können. Er musste also vorsichtig agieren.
Jan eilte zu seinem Zelt zurück. Hilfssanitäter fuhren auf überdachten Tragen, wie er sie vom Oktoberfest kannte, Personen aus seiner Unterkunft heraus. Er schlängelte sich an ihnen vorbei, lief den Weg an den Heizstrahlern entlang und sah schon sein Feldbett. Aber etwas war anders. Wo war der alte Mann? Er sprang förmlich nach vorn und sah unter dem Stoff des Bettes nach. Sein Atem ging schneller. Er rutschte um das Gestell herum, schaute unter den Nachbarbetten nach, beide waren leer. Er drehte wild den Kopf und schrie. Aber die Menschen blickten nur kurz von ihren Betten hoch und drehten sich dann wieder weg. Jans Augen schienen aus den Höhlen herauszutreten. Das konnte doch nicht wahr sein. Er rannte hinter den Sanitätern her und erreichte sie, bevor sie am Ausgang waren. Er schob die Plane von der Trage beiseite. Die beiden Sanitäter wollten ihnwegstoßen, aber er sah es noch. Der alte Mann lag tot auf der Trage, in seinem Hals steckte eine Gabel. Er rannte zurück, sprang über einzelne Reihen. Es konnte noch nicht lange her sein. Und das war der einzige Ausgang. Die Diebe mussten noch hier sein. Kurz vor seinem Bett stolperte er und flog mit dem Kopf gegen einen Heizstrahler. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf, für einen Moment war ihm schwarz vor Augen. Jan rappelte sich benommen wieder auf. Jemand sprach leise mit ihm. Er
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