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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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schreiben lernten. Nicola sagte, ich würde eines Tages ein College irgendwo im Norden besuchen, vielleicht sogar eine Universität in Europa, wenn die Menschen toleranter geworden seien. In den Zwanzigerjahren war die bloße Vorstellung, eine schwarze Frau könnte ein College besuchen, absolut närrisch.«
    Ihre Geschichte verzweigte sich in mehrere Richtungen.
    Ich wollte einiges aufschreiben, hatte aber meinen Notizblock nicht dabei. Die Geschichte eines jungen schwarzen Mädchens, das vor fünfzig Jahren in Mississippi in einem Herrenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg gewohnt, Italienisch gesprochen und Opern gehört hatte, war einzigartig.
    »Haben Sie in dem Haus gearbeitet?«
    »Ja, ab einem gewissen Alter war ich Haushälterin, aber ich musste nie so hart arbeiten wie die anderen. Nicola wollte mich in ihrer Nähe haben. Mindestens eine Stunde am Tag saßen wir in ihrem Salon und machten Sprechübungen. Sie wollte unbedingt ihren italienischen Akzent loswerden und war genauso daran interessiert, dass ich eine makellose Aussprache lernte. In der Stadt lebte eine pensionierte Lehrerin, Miss Tucker, eine alte Jungfer.
    Ich werde sie nie vergessen … Jeden Morgen ließ Nicola sie mit dem Wagen holen. Wir tranken Tee, lasen laut Texte, und Miss Tucker korrigierte selbst den kleinsten Aussprachefehler. Wir studierten die Grammatik und lernten Vokabeln. Nicola paukte so lange, bis sie perfekt Englisch sprach.«
    »Warum ist aus der Idee mit dem College nichts geworden?«
    Mit einem Mal wirkte Miss Callie erschöpft. Die Zeit 165

    des Geschichtenerzählens neigte sich dem Ende zu. »Ach, Mr Traynor, dann brach eine schlimme Zeit an. In den Zwanziger Jahren verlor Mr DeJarnette alles. Er hatte massiv in Eisenbahnen, Schiffe, Aktien und anderes investiert und wurde über Nacht mittellos. Er hat sich erschossen – doch das ist eine andere Geschichte.«
    »Was ist aus Nicola geworden?«
    »Bis zum Zweiten Weltkrieg hat sie es geschafft, das Herrenhaus zu halten, dann zog sie mit ihrer Mutter und ihrem Vater nach Memphis. Jahrelang haben wir uns jede Woche geschrieben, ich habe ihre Briefe immer noch. Vor drei Jahren ist sie mit sechsundsiebzig gestorben. Ich habe einen ganzen Monat lang geweint. Noch heute steigen mir die Tränen in die Augen, wenn ich an sie denke. Oh, wie ich diese Frau geliebt habe.« Sie sprach nicht weiter, und ich wusste aus Erfahrung, dass sie etwas Schlaf brauchte.
    Später an diesem Abend vergrub ich mich im Archiv der Times. Am 12. September 1930 war eine Titelgeschichte über den Selbstmord von Zachary DeJarnette erschienen.
    Aus Verzweiflung über das Scheitern seiner geschäftlichen Unternehmungen hatte er ein neues Testament aufgesetzt und einen Abschiedsbrief an seine Frau geschrieben.
    Dann war er, um es allen einfacher zu machen, zu einem Bestattungsinstitut in Clanton gefahren und hatte es mit einer doppelläufigen Schrotflinte durch die Hintertür betreten. Nachdem er den Einbalsamierungsraum gefunden hatte, setzte er sich dort auf einen Stuhl, zog einen Schuh aus und betätigte den Abzug mit dem großen Zeh.
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    m Montag, dem 22. Juni, waren bis auf acht alle hundert Geschworenen erschienen. Sehr schnell A
    stellte sich heraus, dass vier verstorben und vier verschwunden waren. Von den übrigen blickten die meisten verängstigt drein. Baggy sagte, normalerweise hätten die Geschworenen keine Ahnung, über was für einen Fall sie entscheiden sollten, wenn sie zur Verhandlung kamen. Beim Padgitt-Prozess war das anders. Jede lebende Seele in Ford County wusste, dass der große Tag endlich gekommen war.
    In einer Kleinstadt zieht kaum etwas die Menschen so an wie ein Mordprozess, und der Sitzungssaal hatte sich schon lange vor neun Uhr gefüllt. Auf der einen Seite hatten die potenziellen Geschworenen Platz genommen, auf der anderen saßen die Zuschauer. Die alte Galerie über uns bog sich unter dem Gewicht geradezu durch. Überall an den Wänden standen Zuschauer. Um Präsenz zu zeigen, ließ Sheriff Coley jeden verfügbaren Beamten in Uniform mit wichtiger Miene herumstolzieren, allerdings ohne erkennbare Resultate. Der ideale Zeitpunkt für einen Bankraub, dachte ich.
    Baggy und ich saßen in der ersten Reihe. Er hatte den Geschäftsleiter des Gerichts davon überzeugt, dass wir als Vertreter der Presse Anspruch auf besonders gute Plätze hätten. Neben mir saß ein Reporter von einer Zeitung in Tupelo, ein netter Gentleman, der nach billigem Pfeifentabak roch. Ich

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