Die Löwen
zeitraubenden Austausch von Höflichkeitsfloskeln zuvorzukommen, fügte er sofort hinzu: »Was habt ihr auf dem Herzen?«
»Skabun ist furchtbar bombardiert worden. Es gibt viele Tote und viele Verwundete.«
Jean-Pierre blickte zu Jane. Noch immer konnte er Banda nicht ohne ihre Erlaubnis verlassen, weil sie befürchtete, er werde sich irgendwie mit den Russen in Verbindung setzen. »Soll ich gehen?« fragte er sie auf französisch. »Oder willst du?« Er war nicht im geringsten darauf erpicht, Banda jetzt zu verlassen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würde er in Skabun übernachten müssen, und er wartete doch mit brennender Ungeduld auf den malang.
Jane zögerte. Jean-Pierre wusste , was sie dachte: Wenn sie ging, wurde sie Chantal mitnehmen müssen; außerdem war ihr natürlich bewusst , dass ihre medizinischen Kenntnisse bei schweren Verwundungen nicht ausreichten.
»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte Jean-Pierre.
»Geh du«, erwiderte sie.
»In Ordnung.« Skabun lag etwa zwei Wegstunden entfernt. Wenn er schnell arbeitete und die Zahl der zu Versorgenden nicht allzu hoch war, konnte er vielleicht am Abend wieder in Banda sein. Er sagte: »Ich werde versuchen, noch heute zurückzukommen.«
Sie trat auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Danke«, sagte sie.
Rasch überprüfte er den Inhalt seiner Arzttasche: Morphin gegen Schmerzen, Penicillin zur Verhütung von Wundinfektionen, Nadeln und Fadenbehälter und eine große Menge Verbandstoff. Er setzte sich eine Mütze auf und warf sich eine Decke über die Schultern.
»Maggie lass ich hier«, sagte er zu Jane. »Nach Skabun ist es nicht weit, und der Pfad ist sehr schlecht.« Noch einmal küsste er sie, blickte dann zu den beiden Boten. »Gehen wir«, sagte er.
Sie gingen hinunter zum Dorf, durchwateten an einer flachen Stelle den Fluss und stiegen auf der anderen Seite die steilen Stufen empor. Jean-Pierre dachte an Jane. Wenn sein Plan Erfolg hatte und die Russen Masud töteten - wie würde sie reagieren? Dass hinter dem Anschlag ihr Mann steckte, musste ihr klar sein. Verraten würde sie ihn jedoch nicht, dessen war er sich sicher. Würde sie ihn aber noch lieben? Er wollte sie auf keinen Fall verlieren. Seit sie beide zusammen waren, waren die tiefen Depressionen, die ihn früher regelmäßig heimgesucht hatten, seltener geworden. Janes Liebe gab ihm das Gefühl, dass bei ihm alles in Ordnung war, und dieses Gefühl brauchte er. Aber er brauchte auch den Erfolg als Spion. Wahrscheinlich, dachte er, will ich diesen Erfolg noch mehr als das Glück, und deshalb liegt mir so viel an Masuds Tod - selbst auf die Gefahr hin, dass ich Jane dadurch verliere.
Zu dritt beschritten sie jetzt den Pfad, der nach Südwesten führte, das laute Rauschen des Flusses in den Ohren. Jean-Pierre fragte: »Wie viele Tote?« »Viele«, erwiderte einer der Boten. Jean-Pierre war dergleichen gewohnt. Geduldig fragte er: »Fünf? Zehn?
Zwanzig? Vierzig?« »Einhundert.«
Jean-Pierre glaubte ihm nicht: Skabun hatte keine hundert Einwohner. »Wie viele Verwundete?« »Zweihundert.«
Das war lächerlich. Wusste der Mann es nicht besser, oder übertrieb er aus Angst, der Doktor werde umkehren, falls er zu geringe Zahlen nannte? Vielleicht erklärte sich alles damit, dass er nur bis zehn zählen konnte. »Welche Art von Wunden?« fragte ihn Jean-Pierre. »Löcher und Schnitte und Blutungen.« Das klang eher nach Verwundungen im Kampf. Bombardements hatten Gehirnerschütterungen, Verbrennungen, Quetschungen und Frakturen durch einstürzende Gebäude zur Folge. Als Augenzeuge taugte der Mann offensichtlich nichts. Es hatte keinen Sinn, ihn weiter zu befragen.
Nach etwa drei Kilometern verließen sie den Felspfad und folgten nun einem Weg, der in nördliche Richtung führte und Jean-Pierre unbekannt war. »Ist dies auch ein Weg nach Skabun?« fragte er.
»Ja.« Es musste sich um eine Abkürzung handeln, die ihm bislang entgangen war.
Einige Minuten später sahen sie eine der kleinen Steinhütten, in denen Reisende rasten oder auch übernachten konnten. Zu Jean-Pierres Überraschung strebten die Boten auf den türenlosen Eingang zu. »Wir haben keine Zeit für eine Pause«, sagte Jean-Pierre gereizt. »Verwundete warten auf mich.«
Da trat Anatoli aus der Hütte.
Jean-Pierres Reaktion war ein wildes Gefühlschaos. Was für ein Zufall, Anatoli hier zu treffen! Jetzt kann ich ihm das für morgen angesetzte Treffen der Rebellenführer melden.
Aber die beiden Afghanen
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