Die Löwen
mit dem Finger eine Linie parallel zur russischen Front.
»Zu dicht bei den Russen«, sagte Mohammed.
»Na, dann hier.« Ihr Finger zeigte, sorgfältiger jetzt, eine Route, die den Konturen der Landschaft folgte.
»Nein«, sagte er wieder.
»Warum nicht?«
»Hier -« Er deutete auf eine Stelle zwischen zwei Tälern, wo Janes Finger leichthin über eine Gebirgskette geglitten war. »Hier gibt es keinen Sattel.« Ein Sattel war ein Pass .
Jane zog eine weiter nördlich verlaufende Route. »Hier vielleicht.«
»Noch schlechter.«
»Aber es muss doch irgendeine Route hinaus geben!« rief Jane. Sie hatte das Gefühl, dass die Männer ihre Enttäuschung und Ratlosigkeit genossen. So entschloss sie sich zu einer kleinen Provokation. »Ist dieses Land ein Haus mit nur einer Tür und jetzt vom Rest der Welt abgeschnitten, weil der Khaiber-Paß blockiert ist?« Der Ausdruck das Haus mit einer Tür war ein Hüllwort für den Abort. »Natürlich nicht«, sagte Mohammed steif. »Im Sommer ist da die Butterfährte.«
»Zeig sie mir!«
Mohammeds Finger zeichnete eine komplizierte Route nach. Sie begann unmittelbar östlich des Tals, führte dann über eine Reihe hoch gelegener Pässe und ausgetrockneter Flüsse, bog nordwärts in den Himalaja und überquerte schließlich die Grenze nahe dem Zugang zum unbewohnten Waikhan-Korridor, bevor sie in südöstlicher Richtung der pakistanischen Stadt Chitral entgegenstrebte. »Auf diesem Weg bringen die Leute aus Nuristan ihre Butter, ihren Joghurt und ihren Käse zum Markt in Pakistan.« Er lächelte und fasste sich an die rote Kappe, die er auf dem Kopf trug. »Dort bekommen wir diese Dinger.«
Jane erinnerte sich, dass man sie Chitrali-Kappen nannte. »Gut«, sagte sie. »Dann werden wir auf diesem Weg zurückreisen.«
Mohammed schüttelte den Kopf. »Das könnt ihr nicht.«
»Und warum nicht?«
Khamir und Matullah lächelten wissend. Jane ignorierte sie. Nach einem Augenblick sagte Mohammed: »Das erste Problem ist die Höhe. Diese Route verläuft oberhalb der Eisgrenze. Das bedeutet, dass der Schnee niemals schmilzt und es kein fließendes Wasser gibt, nicht einmal im Sommer. Das zweite sind die Berge. Sie sind sehr steil und die Pfade schmal und gefährlich. Es ist schwer, den richtigen Weg zu finden: Selbst einheimische Führer verirren sich. Aber das schlimmste Problem von allen sind die Leute.
Die Region heißt Nuristan, früher hieß sie jedoch Kafiristan, weil die Menschen dort Ungläubige waren und Wein tranken. Jetzt sind sie zwar Anhänger des wahren Glaubens, aber sie betrügen und berauben die Reisenden noch immer, und manchmal ermorden sie sie sogar. Diese Route taugt nicht für Europäer, ist unmöglich für Frauen. Nur die jüngsten und stärksten Männer können sie benutzen - selbst dann werden viele Reisende getötet.«
»Werdet ihr Konvois über die Route schicken?«
»Nein. Wir werden warten, bis die südlichste Route wieder offen ist.«
Sie betrachtete aufmerksam sein hübsches Gesicht. Er übertrieb nicht, das war ihm anzumerken: Er nannte nur die nüchternen Fakten. Sie schob ihre Karten zusammen und stand auf. Die Enttäuschung war ein bitterer Stachel. Von Heimkehr konnte auf unabsehbare Zeit keine Rede sein. Plötzlich erschienen ihr die Strapazen des Lebens hier im Tal unerträglich, und ihr war zum Heulen zumute.
Sie rollte die Karten zusammen und zwang sich, höflich zu sein. »Du warst lange fort«, sagte sie zu Mohammed.
»Ich war in Faisabad.«
»Eine weite Reise.«
Faisabad war eine große Stadt im fernen Norden. Dort war die Widerstandsbewegung sehr stark: Die Armee hatte gemeutert, und es war den Russen bisher nicht gelungen, die Kontrolle zurückzugewinnen.
»Bist du nicht müde?«
Ihre Frage war eine bloße Floskel. Und Mohammed entgegnete: »Ich lebe noch!«
Sie klemmte sich die zusammengerollten Landkarten unter die Achsel und ging hinaus.
Die Frauen auf dem Hof musterten sie ängstlich, als sie an ihnen vorbeiging. Sie nickte Halima zu, Mohammeds dunkeläugiger Frau, und erhielt als Antwort ein nervöses Halblächeln.
Die Guerillas reisten in der letzten Zeit sehr viel. Mohammed war in Faisabad gewesen, Faras Bruder in Jalalabad … Jane erinnerte sich, dass eine ihrer Patientinnen, eine Frau aus Dascht-i-Rewat, erzählt hatte, ihr Mann sei nach Pagman, in der Nähe von Kabul, geschickt worden. Und Zaharas Schwager Jussuf Gul, der Bruder ihres toten Mannes, hatte sogar zum Logar-Tal reisen müssen, jenseits von
Weitere Kostenlose Bücher