Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
Gesichtszüge abgetastet, mit all ihren Makeln und Unstimmigkeiten. »Es ist wirklich nur eine Illusion. Ihr seid gar nicht schön.«
Die Königin wurde blass. Die winzigen Punkte und Berechnungen von Cinders Scanner enthüllten das größte Geheimnis der Königin. Cinder wurde zwar vom Zauber der Königin eingenommen, von ihren hohen Wangenknochen und vollen Lippen, aber gegen die Wahrheit des Diagramms konnte er nichts ausrichten. Je länger sie sie anstarrte, desto mehr Daten sammelten sich auf ihrem Display und setzten Levanas wirkliche Gesichtszüge allmählich zusammen.
Sie war so gebannt von dieser langsamen Entzauberung, dass sie nicht bemerkte, wie Levana ihre langen Finger krümmte. Erst als die Luft vor elektrischer Ladung flirrte, riss Cinder sich von dem Liniengewirr auf ihrem Sichtfeld los.
Die Königin ballte die Fäuste. Der Wächter schubste Cinder von sich und ließ ihre Handgelenke los.
Nur mit Mühe konnte Cinder verhindern, dass sie vornüberfiel, doch gleich darauf stand sie wieder fest mit beiden Beinen auf dem Boden. Ihre Hand griff nach hinten, als hätte sie einen eigenen Willen, und zerrte die Pistole aus dem Halfter des Wächters.
Sie erstarrte, als sie die Pistole so schnell und unerwartet in ihrer Stahlhand spürte.
Ihr Finger spielte mit dem Abzug. Die Pistole fühlte sich vertraut an, obwohl das eigentlich gar nicht sein konnte, denn sie hatte noch nie eine in der Hand gehalten.
Ihr Herz pochte heftig.
Cinder hob die Pistole und drückte sie mit der Mündung gegen ihre Schläfe. Ein schrecklicher Schrei entwich ihr. Eine Haarsträhne hing an ihren geöffneten Lippen. Ihre Augen schossen nach links, aber sie konnte weder die Pistole noch die verräterische Hand sehen, die sie hielt. Sie schaute die Königin, die Menge und dann Kai an.
Ihr ganzer Körper bebte, nur der ruhige Arm nicht, der die Pistole in Anschlag gebracht hatte, um sie zu töten.
»Nein! Schluss damit! Sofort!« Kai rannte auf Cinder zu und packte ihren Ellenbogen, versuchte, ihn herunterzuziehen, aber sie war so starr wie eine Statue. »Lasst sie gehen!«
»K-Kai«, stammelte sie entsetzt. Sie wollte ihre Hand zwingen, die Waffe wegzuwerfen, wollte ihre Finger zwingen, den Abzug loszulassen, aber es war vergeblich. Sie kniff die Augen zusammen. In ihrem Kopf hämmerte es. Ansteigender Adrenalinspiegel. Kortison. Glukose. Ansteigender Puls. Ansteigender Blutdruck. Warnung, Warnung ...
Ihr Finger zuckte kurz, dann wurde er wieder starr.
Sie stellte sich vor, wie sich die Pistole anhören würde. Sie stellte sich das Blut vor. Und wie ihr Gehirn sich abschaltete, nichts mehr fühlte.
Bioelektrische Manipulation entdeckt. Initialisiere Widerstand in 3 ... 2 ...
Ihr Finger schloss sich langsam, ganz langsam um den Abzug.
Feuer explodierte in ihrer Wirbelsäule, raste ihre Nervenbahnen und Verkabelungen entlang und hinein in die metallischen Verankerungen ihrer Gliedmaßen.
Cinder schrie auf. Mit all ihrer Macht zog sie die Pistole weg von ihrem Kopf. Mit ausgestrecktem Arm, die Mündung zur Decke gerichtet, gab sie den Kampf auf und zog den Abzug. Über ihr barst ein Kronleuchter zu funkensprühenden Splittern aus Glas und Kristall.
Kreischend rannten die Menschen zum Ausgang.
Cinder sackte auf die Knie und krümmte sich zusammen, die Pistole in die Magengrube gedrückt. Stechende Schmerzen blendeten sie. Ein Feuerwerk explodierte in ihrem Kopf. Es war, als ob ihr Körper versuchen würde, all ihre Cyborg-Teile abzustoßen – Explosionen, Funken und Rauch rissen an ihrem Fleisch.
Als sie Kais Stimme über dem Tumult hörte, merkte sie, dass die Schmerzen nachließen. Sie fühlte sich ganz heiß an, als sei sie in einen Ofen geworfen worden, aber jetzt spürte sie die Hitze außen, auf der Haut, an den Fingerspitzen. Sie öffnete die Augen. Weiße Flecken sprenkelten ihr Sichtfeld. Auf ihrem Display flackerten rote Warnungen. Im Augenwinkel sah sie, wie das Diagnoseprogramm durchlief. Erhöhte Temperatur, erhöhter Puls, erhöhter Blutdruck. Eine fremde Substanz, die ihr System nicht erkannte und nicht bekämpfen konnte, zirkulierte plötzlich in ihren Adern. Irgendetwas stimmt nicht , signalisierte ihr die Programmierung. Du bist krank. Du stirbst.
Aber sie fühlte sich überhaupt nicht so.
Ihr Körper war so heiß, sie wunderte sich schon, dass das dünne Kleid noch nicht brannte. Schweiß zischte auf ihrer Stirn. Sie fühlte sich anders. Stark. Mächtig.
Sie brannte.
Bebend hockte sie sich hin
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