Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
»Hallo?«
Sie fing an zu zittern.
»Scar … Scarlet?«
»Grand-mère? Grand-mère?«
Stille, als sei das schon zu viel gewesen.
Scarlet hastete zur Pritsche und wühlte den kleinen Chip unter der Matratze hervor.
Gleich darauf stand sie wieder an der Tür. Verzweifelt, flehend, hoffend. Wenn Wolf sie hereingelegt hatte …
Sie steckte die Hand durch das Gitter und hielt den Chip vor den Scanner. Der gab einen Glockenton von sich, denselben widerwärtig optimistischen Ton, der immer erklungen war, wenn die Wärter ihr das Essen gebracht hatten – ein Klang, den sie bis zu diesem Augenblick gehasst hatte.
Die Eisentür schwang auf.
Scarlet verharrte mit rasendem Puls an der offenen Tür. Aber sie hörte ihre Wärter nicht; das Opernhaus machte einen völlig verlassenen Eindruck.
Sie stolperte in den dunklen Flur und tastete sich an der Wand voran. An jeder Gittertür flüsterte sie: »Grand-mère?«
Doch die Zellen standen leer.
Drei, vier, fünf Zellen, alle leer.
»Grand-mère?«, flüsterte sie wieder.
An der sechsten Tür hörte sie ein Wimmern. »Scarlet?«
»Grand-mère!« In der Aufregung ließ sie den Chip fallen und ging sofort auf alle viere, um ihn zu suchen. »Grand-mère, alles wird gut, ich bin hier. Ich hole dich hier raus …« Sie fand den Chip und zog ihn über den Scanner. Erleichtert hörte sie den Glockenton. Ihre Großmutter schluchzte bei dem Geräusch verängstigt auf.
Scarlet warf sich gegen die Tür und flog fast in die dunkle Zelle hinein. In der abgestandenen Luft war der Gestank nach Urin und Schweiß überwältigend. »Grand-mère?«
Sie kauerte auf dem klammen Steinboden an der hinteren Wand.
»Scar? Wie kommst …?«
»Ich hole dich hier raus.« Sie ergriff die ausgemergelten Arme ihrer Großmutter, um sie ganz an sich zu ziehen.
Michelle schrie auf, ein grässlicher, mitleiderregender Klagelaut, der Scarlet durch Mark und Bein ging. Scarlet ließ sie vorsichtig zurücksinken.
»Bitte lass mich«, wimmerte Michelle und sackte schlaff an der Wand herab. »Ach Scar, warum bist du bloß hergekommen? Das ist mehr, als ich ertragen kann. Scarlet …« Sie verschluckte sich und schluchzte verzweifelt.
Scarlet hockte vor ihrer Großmutter. Kalte Angst überkam sie. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Großmutter jemals weinen gesehen zu haben. »Was haben sie dir angetan?«, flüsterte sie und legte ihr die Hände ganz sanft auf die Schultern. Unter einem dünnen Hemd fühlte sie einen knotigen Verband und etwas Feuchtes, Klebriges.
Sie kämpfte mit den Tränen, als sie vorsichtig Brust und Rippen abtastete. Überall notdürftige Verbände. Sie streichelte die Hände und Arme ihrer Großmutter – die Hände ähnelten Keulen, so dick waren sie umwickelt.
»Bitte nicht anfassen.« Michelle wollte die Hände zurückziehen, aber sie begannen unkontrolliert zu zucken.
Unendlich leicht strich Scarlet über die Verbände. Heiße Tränen liefen ihr die Wangen herab. »Was haben sie mit dir gemacht?«
»Scar, sieh zu, dass du hier rauskommst.« Jedes Wort war ein Kampf. Michelle konnte kaum sprechen, kaum atmen.
Scarlet legte den Kopf ihrer Großmutter in ihren Schoß und strich ihr das klebrige Haar aus der Stirn. »Alles wird wieder gut. Ich hole dich hier raus und bringe dich ins Krankenhaus. Du schaffst das. Bestimmt.« Sie richtete sich auf. »Kannst du laufen? Was ist mit deinen Beinen?«
»Ich kann nicht mehr laufen. Ich kann mich überhaupt nicht mehr bewegen. Lass mich einfach hier, Scarlet. Hauptsache, du kommst hier raus.«
»Ich lasse dich nicht allein. Sie sind alle weg, Grand-mère. Wir haben Zeit. Wir müssen uns nur überlegen, wie ich dich tragen kann.« Tränen tropften ihr vom Kinn.
»Komm mal her, mein Liebling.«
Scarlet wischte sich die Nase ab und vergrub ihr Gesicht am Hals ihrer Großmutter, die versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber sich nur an Scarlets Seite lehnen konnte. »Ich wollte dich da nicht mit reinziehen. Es tut mir so leid.«
»Grand-mère.«
»Schsch. Hör zu. Du musst etwas für mich erledigen. Etwas Wichtiges.«
Scarlet schüttelte den Kopf. »Wir schaffen das, es wird alles wieder gut.«
»Hör mir zu, Scarlet.« Die Stimme ihrer Großmutter schien noch leiser zu werden. »Prinzessin Selene lebt.«
Scarlet kniff die Augen zusammen. »Bitte sag nichts mehr. Spar deine Kräfte.«
»Sie lebt jetzt im Asiatischen Staatenbund bei einer Familie Linh. Bei einem Mann namens Linh Garan.«
Scarlet seufzte. »Ich
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