Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Hand mit eleganten Drachen bemalte Laternenlampen herab. In einer Wand war ein Kamin mit holografischem Feuer eingelassen. Um eine kleine Bar stand eine Sitzgruppe aus intarsienverziertem Zypressenholz. Stumme Videos von Kais Mutter, von Kai selbst, als er klein war, und von der Familie wiederholten sich endlos in den Bilderrahmen neben der Tür.
Nichts hatte sich hier seit dem Tod seines Vaters verändert. Außer, dass der Raum jetzt seiner war.
Und außer dem Geruch. Kai erinnerte sich an das Aftershave seines Vaters, doch jetzt stank der Raum nach Chlor und anderen Chemikalien – Überbleibseln der Putzkolonne, die das Arbeitszimmer geschrubbt hatte nachdem sein Vater an Letumose erkrankt war, an der Blauen Pest, die im letzten Jahrzehnt überall auf der Erde Hunderttausende das Leben gekostet hatte.
Kais Blick wanderte von den Bilderrahmen zu dem kleinen Metallfuß auf einer Ecke seines Schreibtischs, dessen Gelenke ölverkrustet waren. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und kamen immer wieder zu ihr zurück.
Zu Linh Cinder.
Sein Magen war hart wie ein Stein, als er den Stift aus der Hand legte und nach dem Fuß griff. Doch dann hielt er mitten in der Bewegung inne.
Er gehörte der hübschen jungen Mechanikerin vom Markt, mit der er so leicht ins Gespräch gekommen war. Die nicht vorgegeben hatte, jemand anders zu sein.
Jedenfalls hatte er das gedacht.
Er ballte die Hand zur Faust und zog sie langsam zurück. Wenn er wenigstens jemanden hätte, mit dem er reden konnte.
Doch sein Vater war nicht mehr da und Dr. Erland auch nicht. Er hatte seine Stelle gekündigt und war verschwunden, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Natürlich gab es noch Konn Torin, den ehemaligen Berater seines Vaters, der jetzt seiner war. Doch Torin würde ihn nie verstehen, er war viel zu diplomatisch und dachte zu logisch. Kai war sich noch nicht einmal sicher, ob er seine eigenen Gefühle für Cinder verstand. Linh Cinder, die ihn so unglaublich belogen hatte.
Sie war ein Cyborg.
Wie sie dort am Fuß der Gartentreppe gelegen hatte – mit abgetrenntem Fuß und weiß glühender Metallhand, auf der der Seidenhandschuh schmolz, den er ihr geschenkt hatte –, dieses Bild konnte er nicht aus seinem Gedächtnis tilgen.
Er hätte abgestoßen sein müssen, als sich die Erinnerung immer wieder vor seinem geistigen Auge abspulte, und er bemühte sich nach Kräften, all das abscheulich zu finden: die Funken sprühenden Drähte, ihre ölverschmierten Finger und das Wissen, dass sie künstliche neurale Rezeptoren hatte, die von ihrem Gehirn mit Impulsen gesteuert wurden. Sie war nicht normal, sondern ein Sozialfall, und er konnte nicht anders, er musste darüber nachdenken, ob ihre Familie für die Operation aufgekommen war oder die Regierung. Er fragte sich, wer solches Mitleid mit ihr gehabt haben mochte, dass er ihr ein zweites Leben geschenkt hatte, obwohl sie so schwer verletzt gewesen war. Und was um Himmels willen zu dieser Verstümmelung geführt hatte – oder ob sie vielleicht schon so zur Welt gekommen war.
Das fragte er sich immer wieder. Und ihm war auch bewusst, dass ihn jede unbeantwortete Frage noch mehr hätte abschrecken müssen.
Aber nicht, dass sie ein Cyborg war, machte ihm so zu schaffen.
Seine Abscheu vor ihr begann in dem Moment, in dem sie zu flimmern begann wie ein kaputter Netscreen. Er hatte die Augen zusammengekniffen und danach sah er keinen hilflosen, durchweichten Cyborg mehr, sondern das schönste Mädchen unter der Sonne. Mit ihrer makellosen, leicht gebräunten Haut und ihren leuchtenden Augen war sie so schön, dass er weiche Knie bekommen hatte.
Ihr lunarischer Zauber war noch stärker als der von Königin Levana, und deren Schönheit tat ihm schon weh.
Kai wusste, dass es Cinders Zauber gewesen sein musste, der ihn in Wellen erreichte, als er oben auf der Treppe gestanden und noch herauszufinden versucht hatte, was er dort unten eigentlich sah.
Was er nicht wusste, war, wie oft sie den Zauber vorher schon eingesetzt hatte. Wie oft sie ihn hintergangen hatte. Wie oft sie ihn zum Narren gehalten hatte.
Oder war das zerzauste und ölverschmierte Mädchen vom Markt das wahre Mädchen gewesen? Das Mädchen, das sein Leben riskiert hatte und auf den Ball gekommen war, um Kai zu warnen, trotz ihres locker sitzenden Cyborg-Fußes und all dem …
»Ist ja auch egal«, sagte er zu dem abgefallenen Fuß im leeren Arbeitszimmer.
Wer auch immer Linh Cinder war, sie ging ihn nichts mehr an. Bald
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