Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
schlucken. Torin hatte natürlich Recht. Wenn er zögerte, würde das als Zeichen von Schwäche gewertet werden – möglicherweise würde man ihm sogar unterstellen, dass er ihr zur Flucht verholfen hatte. Königin Levana würde die Nachricht nicht gerade wohlwollend aufnehmen.
»Mit wem ist sie geflohen?«, fragte er. Er versuchte Zeit zu gewinnen, während er sich die Lage vor Augen führte. Cinder – eine Lunarierin, ein Cyborg, eine Entflohene, die er mehr oder weniger zum Tode verurteilt hatte.
Entkommen .
»Carswell Thorne«, sagte Huy, »ein ehemaliger Kadett der Air Force der Amerikanischen Republik. Vor vierzehn Monaten ist er desertiert und hat ein Lieferschiff gestohlen. Wir schätzen ihn als ungefährlich ein.«
Als Kai zu seinem Schreibtisch zurückging, wurde der Steckbrief der Entflohenen auf seinem Schirm angezeigt. Er runzelte die Stirn. Der Amerikaner mochte als ungefährlich eingestuft werden, aber er war jung und sah unzweifelhaft gut aus. Auf dem Gefängnisfoto zwinkerte er lässig in die Kamera. Kai hasste ihn auf der Stelle.
»Eure Majestät, wir müssen eine Entscheidung fällen«, drängte Torin. »Hat das Militär Zugriffsbefehl?«
Kai stand starr da. »Ja, selbstverständlich. Wenn Sie meinen, die Situation erfordere es.«
Huy schlug die Hacken zusammen und marschierte zur Tür.
Kai hatte den Impuls, ihn zurückzurufen und ihm tausend Fragen zu stellen. Ihm ging das alles viel zu schnell, er hatte die Nachricht noch nicht einmal verarbeitet. Aber die beiden Männer waren schon gegangen, bevor er ihnen ein zauderndes »Warten Sie« hinterherrufen konnte.
Die Tür hatte sich geschlossen; er war wieder allein. Er warf einen kurzen Blick auf Cinders verlorenen Fuß, bevor er resigniert den Kopf senkte und seine Stirn an dem Bildschirm auf dem Schreibtisch kühlte.
Wie hätte sein Vater in dieser Lage wohl reagiert? Kai wusste es: Er hätte längst Teles verschickt und alles getan, was zur Ergreifung des Mädchens notwendig war, weil es das Beste für den Asiatischen Staatenbund gewesen wäre.
Aber Kai war nicht sein Vater. Er war auch nicht so selbstlos.
Er wusste zwar, dass es falsch war, doch er hoffte inständig, dass sie Cinder nie finden würden – wohin sie auch immer geflohen sein mochte.
8
Die Morels waren alle tot. Ihr Hof lag schon sieben Jahre verlassen da – seit man die Eltern und alle sechs Kinder eines Oktobertages in die Quarantänestation nach Toulouse abtransportiert hatte. Zurück blieben verfallende Gebäude – das Bauernhaus, die Scheune, der Hühnerstall – und rund hundert Morgen Ackerland, das seitdem brach lag. Einzig eine Rundbogenhalle aus Wellblech für Trecker und Heuballen war noch intakt und stand abseits in einem verwilderten Getreidefeld.
Ein staubiger, schwarz gefärbter Kissenbezug flatterte als Warnung für die Nachbarn an der Veranda. Jahrelang hatte er seine Wirkung getan, bis die Raufbolde, die die Kämpfe organisierten, das Haus entdeckt und mit Beschlag belegt hatten.
Als Scarlet eintraf, waren die Kämpfe schon in vollem Gang. Noch aus ihrem Lieferschiff hatte sie der Polizeidienststelle in Toulouse eine Tele geschickt. Nutzlos, wie sie waren, würden sie frühestens in einer halben Stunde darauf reagieren. Das war genug, um alles Nötige zu erfahren, bevor die Polizei Wolf und die anderen Kriminellen verhaftete.
Sie zwang sich, die kühle Nachtluft langsam ein- und auszuatmen. Ihren hämmernden Herzschlag verlangsamte das nicht, aber sie trat trotzdem in die Lagerhalle.
Eine grölende Menge hatte sich um eine notdürftig zusammengezimmerte Bühne versammelt, auf der Scarlet einen Hünen sah, der seinem Gegner unerschütterlich ins blutüberströmte Gesicht schlug – angefeuert vom Brüllen der Zuschauer.
Scarlet machte einen Bogen um die Menge und hielt sich eng an den mit grellen Graffiti besprühten Außenwänden. Auf dem Boden lag zu Staub zertrampeltes Stroh und von Kabeln in oranger Signalfarbe hingen flackernde oder schon erloschene LED s. Unter den Gestank nach Schweiß und erhitzten Menschen hatte sich ein frischer Geruch von den Feldern gemischt, der hier vollkommen fehl am Platz schien.
Mit so vielen Menschen hatte Scarlet nicht gerechnet. Es waren bestimmt mehr als zweihundert Zuschauer, und Scarlet erkannte niemanden. Das waren keine Kleinstädter aus Rieux – sondern eher Leute, die extra aus Toulouse gekommen waren. Scarlet stachen Tätowierungen, Piercings und offenkundige chirurgische
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