Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Thorne vorher so hart angegangen war. Sie sahen zwar keine Ratten, aber sie hörten, wie sie vor dem Lichtkegel davonhuschten, in die unzähligen Tunnel hinein, die sich unter der Stadt auffächerten.
Beim Weitergehen redete Thorne mit sich selbst und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. In jedem Fall war sein Schiff irgendwo in der Nähe des Beihai-Parks. Im Industriegebiet. Nicht mehr als sechs Seitenstraßen von der Magnetbahn entfernt … na ja, höchstens acht.
»Jetzt sind wir fast am Park«, sagte Cinder und hielt vor einer Metallleiter. Ein Lichtstrahl fiel auf sie herab. »Die Straße über uns führt nach West-Yunxin.«
»Das kommt mir bekannt vor. Irgendwie jedenfalls.«
Sie mahnte sich, geduldiger zu sein. Wenigstens war die Luft herrlich frisch, als sie am oberen Ende der Leiter ankam. Sie schob den Deckel zur Seite, streckte den Kopf hinaus und entdeckte als Erstes kreisende Lichter auf einem weißen Fahrzeug. Auf einem Bereitschaftshover. Bilder von Androiden – bewaffnet mit ferngesteuerten, todbringenden Elektroschockern – ließen sie erschauern, doch dann bog der Hover um die Ecke und sie erkannte ein rotes Kreuz an der Seite. Eine Ambulanz, kein Polizeihover. Cinder brach vor Erleichterung fast zusammen.
Sie befanden sich im alten Lagerhausviertel, in der Nähe der Pestquarantänestation. Hier musste man mit Notfallhovern rechnen.
Sie blickte sich in der verlassenen Straße um. Es war noch früh, aber in der Hitze stiegen schon sonderbare Trugbilder aus dem Asphalt empor. Nichts erinnerte mehr an das reinigende Sommergewitter vor zwei Nächten.
»Sauber!« Sie kletterte auf die Straße und sog die feuchte Luft der Stadt tief in die Lungenflügel ein. Thorne folgte ihr auf dem Fuß. Seine Häftlingsuniform blendete sie im hellen Sonnenlicht. Außer an den Beinen, wo sie dreckig grün war und nach Kloake stank. »In welche Richtung?«
Thorne schirmte die Augen mit dem Unterarm ab, blinzelte an den Betonmauern empor und drehte sich einmal im Kreis. Sah wieder Richtung Norden. Kratzte sich im Nacken.
Cinder verlor die Zuversicht. »Du erkennst doch irgendwas, oder?«
»Doch, doch, aber ich war schon lange nicht mehr hier.«
Thorne nickte in eine Richtung und marschierte los. »Hier lang.«
Nach fünf Schritten hielt er an, dachte nach und drehte sich um. »Nein, was bin ich blöd, da entlang.«
»Wir sind geliefert.«
»Ach nee, jetzt weiß ich’s wieder. Hier lang.«
»Hast du dir die Adresse denn nicht gemerkt?«
»Ein Kapitän weiß immer, wo sein Schiff liegt. Es ist eine emotionale Bindung.«
»Schade nur, dass ich hier keinen Kapitän sehen kann.«
Er ignorierte sie und lief mit beeindruckendem Selbstvertrauen voran. Cinder folgte ihm mit drei Schritten Abstand und zuckte bei jedem Geräusch zusammen – Abfälle, die über die Straße wehten, ein Hover, der zwei Straßen entfernt über eine Kreuzung schwebte. In den verstaubten Fenstern der Lagerhäuser spiegelte sich matt die Sonne.
Sie überquerten drei Straßen und plötzlich verlangsamte Thorne seinen Schritt, sah an den Fassaden hoch und rieb sich das Kinn.
Cinder hatte schon verzweifelt angefangen, einen Plan B zu entwickeln.
»Da drüben!« Thorne schoss über die Straße auf ein Lagerhaus zu, das genau wie die benachbarten aussah, mit gigantisch hohen Rolltoren und uralten grellbunten Graffiti. Er ging um das Gebäude herum und versuchte die Eingangstür zu öffnen. »Verschlossen.«
Als Cinder den ID -Scanner neben der Tür entdeckte, fluchte sie laut. »Zahlencode.« Sie kniete sich hin und hebelte die Plastikabdeckung des Scanners auf. »Vielleicht kann ich es knacken. Meinst du, das ist hier alarmgesichert?«
»Hoffentlich. Ich hab ja nicht all die Zeit Miete gezahlt, damit mein Schätzchen unbewacht in einem verlassenen Lagerhaus herumsteht.«
Cinder hatte gerade das Handbuch für diesen Produkttyp heruntergeladen, da öffnete sich die Tür und ein rundlicher Mann mit einem dünnen Spitzbart trat ins Sonnenlicht. Cinder erstarrte.
»Carswell«, rief der Mann. »Ich hab gerade die Nachrichten gesehen. Hab mir schon gedacht, dass du vorbeikommst.«
»Alak, wie geht’s dir denn so, alter Knabe?« Thorne grinste breit. »Bin ich wirklich in den Nachrichten? Wie sehe ich aus?«
Ohne zu antworten, musterte Alak Cinder. Seine Freundlichkeit verflog; er fühlte sich offensichtlich schlagartig nicht mehr wohl in seiner Haut. Cinder schluckte, setzte die Plastikklappe wieder auf den Scanner und sah ihn
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