Die Macht der ewigen Liebe
»Du warst sauer auf mich, als ich Mom nicht heilen wollte, und jetzt bist du’s wieder, weil ich es versucht habe. Mal hü, mal hott, das geht nicht, Lucy! Entweder bin ich ein Monster, weil ich sie sterben lasse, oder ich bin eine Märtyrerin, weil ich sie zu retten versucht habe. Entscheide dich und steh dahinter, wenn du mich dafür bestrafst.«
Noch nie hatte ich so scharf mit ihr gesprochen. Ihre Kinnlade klappte herunter, und sie trat steifbeinig zurück.
»Ich habe um das Ganze hier genauso wenig gebeten wie du«, fuhr ich fort. »Okay, ich habe Fehler gemacht, aber ich gebe mein Bestes. Wenn dir das nicht reicht, tut’s mir leid. Und es tut mir leid, dass du alles verloren hast und dass du traurig, verletzt und wütend bist. Aber schau dich um – du bist nicht die Einzige!«
Ich ließ sie vor dem Kamin stehen, wandte mich aber noch mal um, als ich in der Tür stand. Inzwischen hatte sie unsere Eltern als »ihre Eltern« bezeichnet, als gehörte ich gar nicht dazu.
»Noch was … Es sind auch meine Eltern. Was immer du von mir halten magst, sie haben mein Leben gerettet, als sie mich als ihre Tochter bei sich aufgenommen haben. Das kannst du mir nicht nehmen, auch wenn du wütend auf mich bist!«
Damit verließ ich den Raum und prallte geradewegs mitAsher zusammen. Er legte die Hände auf meine Schultern und drückte sie. »Gut gemacht, mo cridhe «, sagte er leise.
Ich setzte das Buch als Schild ein, um ihn wegzustoßen. »Und du! Du hörst gefälligst auf, mich ›mein Herz‹ zu nennen, wenn du es gar nicht mehr so meinst!«
Als hätte ich ihn geschlagen, wich er zurück. Und ich schob mich ohne einen Blick zurück an ihm vorbei.
Ich konnte nicht hinausgehen, also tat ich das Nächstbeste. Der Wintergarten hatte ein Glasdach und Glaswände und bot somit einen Blick auf die Dachterrasse. Regen fiel aufs Dach, erschuf einen musikalischen Vielklang, bevor die Tropfen an den Glasseiten herunterliefen. In einer Ecke standen zwei Korbstühle und ein Tisch, die den Raum gemütlicher wirken ließen.
Ich ließ das Buch auf den Tisch fallen und sank auf einen Stuhl. Wahrscheinlich hätte ich Lucy all das nicht an den Kopf knallen sollen, aber ich konnte mir nicht immer alles anhören und dann auch noch die andere Wange hinhalten. Das würde aus mir die Märtyrerin machen, für die sie mich hielt, und die wollte ich nicht sein. Ich hatte immer versucht, andere zu heilen, wenn ich konnte. Was Asher und Lucy einfach nie kapierten, war, dass meine Entscheidung, so zu handeln, nicht durch einen Todeswunsch ausgelöst wurde und es sich auch nicht um einen impulsiven Akt handelte. Ich heilte Menschen, weil ich wusste, wie es war, Schmerzen zu haben und zu merken, dass niemand da war, der dir half. Ich verstand, wie es war, sich schwach zu fühlen und der Gnade des Schicksals ausgesetzt zu sein. Meine Familie und meine Freunde schienen alle zu denken, ich würde das Leben nicht wertschätzen,dabei war das Gegenteil der Fall. Ich heilte Menschen, weil ich das Leben wertschätzte. Imstande zu sein, jemanden von seinem Leiden zu kurieren, ein Leben zu retten, das war meine Gabe. Und ich war gut darin.
Was aber würde ich tun, wenn wir meinen Vater gefunden hatten, und ich danach allein weiterzog? Ich konnte versuchen, anderswo Wurzeln zu schlagen. Dumm war nur, dass ich jedes Mal, wenn ich meine Fähigkeiten einsetzte, riskierte, von meinen Feinden entdeckt zu werden. Hieß das, ich ließ es besser? Konnte ich tatenlos zuschauen, wie jemand litt, wenn ich wusste, ich könnte ihm helfen? Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Er erinnerte mich an all die Menschen, die beim Anblick der Blutergüsse und Verbrennungen, die ich als Kind nicht hatte verbergen oder heilen können, absichtlich wegschauten. Dean hatte meine Mutter und mich gefoltert, und niemand war uns zu Hilfe gekommen. Alcais hatte Erin gequält, und auch ihr hatte niemand geholfen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich eine unbeteiligte Zuschauerin sein könnte. Auch deshalb nicht, weil mir die vielen Jahre, die ich meine Mutter geheilt hatte, das Gefühl vermittelt hatten, Deans Komplizin zu sein. Zu einem solchen Leben wollte ich nicht zurückkehren.
Vielleicht war es besser, ein Leben auf der Flucht zu führen und von einem Ort zum anderen zu ziehen. Wenn ich mich nie irgendwo fest niederließ, würde ich mich auch nie an jemanden binden, der verletzt werden konnte. Plötzlich wünschte ich, ich könnte meinem Vater alles beichten. Er hatte
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