Die Macht der Medusa
wohl Teile verdunstet, aber auch wieder hinzugekommen, wenn sich die starken Regengüsse über das Land ergossen hatten.
Die letzte Strecke führte nicht mehr so flach weiter. Einige Meter mußten sie schon so gehen, als wollten sie eine Böschung erklimmen, und dann galt es nur noch, einen letzten Gürtel aus Pflanzen zu durchbrechen, in die hinein sich die Blüten geschoben hatten, als wollten sie das triste Grün unterbrechen. Gelbe und lachsfarbene Sommerblumen, von Insekten umhuscht, von bunten Schmetterlingen als Landeplatz bevorzugt. Dazwischen stand das hohe Gras, dessen Halme sich sehr bald verkürzten, weil das Wasser des Löschteichs dicht an sie heranfloß und sie umfangen hielt.
Der Löschteich war mal als Wanne angelegt worden. Man hatte Steine genommen und sie verfugt. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Die Natur hatte alles überwuchert. So war von den grauen Innenwänden nichts mehr zu erkennen.
Die beiden Frauen blieben stehen, ohne miteinander zu sprechen. Sie ließen ihre Blicke über den Teich schweifen, dessen Oberfläche sehr still dalag. Es gab kaum Wellen. Wenn, dann waren es nur Ringe, die sich ausbreiteten, wenn ein Tier von unten her an die Oberfläche gestoßen war. Ein Frosch, eine Unke.
Durchsichtig war das Wasser nicht. Es war tiefgrün, beinahe schon schwarz. Auf der Oberfläche malte sich ein Teil der Umgebung ab. Dort spiegelten sich die Kronen der Bäume wie scharf gezeichnete, schattige Skizzen.
Der Teich hatte etwas.
Es war schwer zu erklären. Auch Fremde hätten gespürt, was von ihm ausging. Eine geheimnisvolle Aura. So düster und zugleich lockend, als wollte er einem einsamen Wanderer auffordern, in ihn hineinzutauchen und sich dort umzuschauen.
Er war das Ziel der beiden Frauen. Noch allerdings hätte niemand einen Grund erkennen können. Der Teich war nicht da, um sein Geheimnis freizugeben. Er locke nur, und man mußte schon eine gewisse Sensibilität mitbringen, um dies zu spüren.
Menschliche Stimmen waren nicht zu hören. Es schien sie überhaupt nicht zu geben. Der Teich lag da wie ein Relikt aus der Urzeit, die noch keine Menschen kannte. Und auch die von den Frauen so sehr gewünschte Medusa zeigte sich nicht.
Aber sie war da. Sie schickte bereits ihre Boten aus, denn beide spürten das gleiche. Sie sprachen zuerst nicht darüber, bis sie sich anschauten und zunickten.
»Es ist die Schlange, nicht?«
Miranda nickte. »Ja, sie bewegt sich. Wir sind genau richtig. Medusa hat uns gespürt. Sie lauert.«
Alina drehte ihren Kopf so, daß sie die Bemalung auf ihrer Schulter erkennen konnte. Die Schlange war da, und sie bewegte sich auch, ohne daß die Frau selbst an ihrer Haut gezogen hätte. Durch die Bewegungen entstand ein wohliges Gefühl, das Alina wie ein schwaches Kitzeln wahrnahm. Die Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.
Neben ihr stand Miranda, schaute über den Teich hinweg und rieb ebenfalls ihren Arm. Auch sie hatte Kontakt zu Medusa gefunden, die sich selbst nicht blicken ließ.
Die beiden Freundinnen konnten nichts unternehmen. Hier regierte einzig und allein die große Medusa, denn sie hatte alle anderen überlebt.
»Sie ist auf dem Weg«, flüsterte Alina. »Ich spüre es genau. Sie kommt, das weiß ich.«
Die Worte hatte sie kaum ausgesprochen, als sich das Wasser bewegte, ohne jedoch Wellen zu bilden, die gegen das Ufer klatschten. Die Bewegungen entstanden in der unergründlich wirkenden Tiefe, und sie waren mit Wolken zu vergleichen, die vom Grund her aufgewühlt worden waren und nun ihr Ziel an der Oberfläche sahen.
Sehr schwarze Wolken. Fast wie Tinte und trotzdem klar. Medusa setzte Prioritäten, als wollte sie beweisen, daß sie selbst ein Geschöpf der Finsternis war.
»Ich bin Stheno!« flüsterte Alina. »Ich spüre es immer deutlicher. Ich denke an die Macht der Schlangen...«
»Und ich fühle wie Euryale!« sprach Miranda ebenso leise. »Ich verändere mich. Das weiß ich. Die Schlange in mir. Sie ist es, die Signale aussendet...«
Beide Frauen schwiegen jetzt. Sie konnten sich nicht mehr der Faszination entziehen. Es war einfach anders geworden. Ihr bisheriges Leben ließen sie zurück. Die neue Zeit lag vor ihnen. Sie würden ein anderes Leben führen, und sie würden sich wohl fühlen im Kreis der Gorgonen, die ihr mythologisches Dasein in die Wirklichkeit umsetzten.
Es war so wunderbar für sie. Herrlich und voller Erwartung. Das Wasser hatte sich noch mehr verdunkelt. Die Schatten trieben jetzt bis an die Ufer
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