Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
aufgedrückt hätte. »Die stammt von meinem Vater«, stieß sie hervor. »Der war genauso grausam.«
Die Bemerkung saß. Getroffen fuhr Paul zurück. Er warf die Decke auf das Bett und verließ die Kabine. Er brauchte Zeit, um nachzudenken.
Der Himmel war rabenschwarz. Dichte Wolken verdeckten die Sterne, sodass das Deck nur von wenigen Lampen erhellt wurde. Zwischen den Matrosen, die ein Lager an der frischen Luft ihrem stickigen Quartier unter Deck vorzogen, ging Paul zur Reling hinüber. Tief atmete er die salzige Nachtluft ein und starrte in die Finsternis hinaus.
Was habe ich getan? Vor nicht allzu langer Zeit hätte er ein solches Abenteuer einfach vergessen. Doch diesmal war das anders.
Er dachte an sein erstes Mal. Damals war er fünfzehn Jahre alt geworden, und John und George fanden es an der Zeit, ihm sein erstes Mal im Dulcie’s zu spendieren. John wettete um zehn Dollar, dass Paul versagen würde, doch er verlor. Allerdings erzählte ihm Paul nie von seinen Ängsten. Obgleich die Lady sicher mehr Männer gehabt hatte, als sie zählen konnte, sorgte er sich, dass er sie geschwängert haben könnte. Nie sollte ein Kind erleben, was ihm widerfahren war.
Nachdem er die fleischlichen Lüste einmal erlebt hatte, war es um ihn geschehen. Mit der Zeit legte sich auch seine Angst, ein Kind zu zeugen. Und für die Liebe bezahlen musste er auch nicht mehr. Im Gegenteil. Er wusste um seine Ausstrahlung und traf überall Frauen, die ihn begehrten. In der Regel waren sie älter und erfahrener, und Paul stellte von Beginn an klar, dass sie sein Bett auf keinen Fall mit einem Kind im Bauch verlassen würden. Es gab schließlich Mittel und Wege. Frauen, die ihn länger kannten, wussten genau, wie sie ihn befriedigen konnten. Trotz seiner zahlreichen Liebschaften war Paul sicher, dass er bisher noch kein illegitimes Kind gezeugt hatte.
In dieser Nacht jedoch war ihm der beunruhigende Gedanke in keiner Sekunde in den Kopf gekommen. Er hatte Rebecca voller Leidenschaft geliebt und sich ganz und gar vergessen. Wie groß war eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie gleich beim ersten Mal empfangen hatte? Klein, sehr klein. Aber nicht klein genug … Ihr Liebesspiel hatte ihn förmlich berauscht. Wer hatte eigentlich wen beherrscht?
Paul hatte gehört, dass eine Jungfrau nicht so intensiv empfinden könnte wie eine erfahrene Frau. Aber Rebecca hatte er zutiefst befriedigt. Selbst jetzt spürte er noch, wie sich ihre Hüften unter ihm bewegten, hörte ihr Stöhnen … War sie eine Ausnahme, weil sie ihn liebte? Er seufzte, als er die aufregenden Momente noch einmal durchlebte. War das Liebe? Unmöglich. Er kannte sie doch kaum.
Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und dachte an Charmaine. Warum hatte er sie hintergangen? Und Rebecca genauso? Wie sein Vater mit Elizabeth und Agatha … Denk einfach nicht daran! Sei kein Narr. Warte einfach ab. Mehr brauchst du nicht zu tun.
Als er müde wurde, kehrte er in die Kabine zurück. Rebecca hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Vermutlich hatte sie sich in den Schlaf geweint. Angezogen, wie er war, legte er sich neben sie und war kurz darauf eingeschlafen. Genauso schnell begann er zu träumen.
Er ritt auf Alabaster auf das Herrenhaus zu. Charmaine saß auf der Schaukel, und die kleine Marie lag auf einer Decke neben ihr. Sie sah ihn schon von Weitem und winkte. Als er abstieg, nahm sie Marie auf den Arm und kam zu ihm. Dann gingen sie ins Haus und stiegen die Treppe hinauf. Nachdem Charmaine ihre Tochter ins Bett gebracht hatte, kam sie in sein Zimmer und schloss hinter sich ab. Sie zog sich aus und ließ sich umarmen und küssen. Dann hob er sie hoch und trug sie zum Bett. Er liebte sie, doch als es vorüber war, rollte sie sich, Tränen in den Augen, von ihm weg und ließ ein leeres Gefühl in ihm zurück.
Im nächsten Traum sah er frühmorgens in der Sägemühle nach dem Rechten und nickte Wade zu. Anschließend ritt er in die Stadt. Dort ging er auf das Cottage der Remmens zu. Als auf sein Klopfen niemand öffnete, verschaffte er sich gewaltsam Zutritt. Mit blitzenden Augen trat ihm Rebecca entgegen. Sie beschimpfte ihn, weil er mit Charmaine geschlafen hatte. Er war sicher, dass sie ihrer Leidenschaft erlag, wenn er sie nur küsste. Sie wollte flüchten, doch er war mit zwei großen Schritten bei ihr und riss sie in seine Arme. Als seine Lippen ihren Mund eroberten, gab sie den Widerstand auf. Mit dem Fuß stieß er die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf und
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