Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Dezember 1838
Benito St. Giovanni nahm die plötzliche Ankunft von John Ryan nicht weiter schwer. Schließlich hätte es schlimmer kommen können. Man hätte zum Beispiel seinen Tunnel entdecken können, der so gut wie fertig war. Oder seine Zeit hätte abgelaufen sein können. Nachdem Ryan vor knapp vier Wochen in sein Gefängnis gebracht worden war, hatte er ihn zuerst einmal eine Woche lang vorsichtig beäugt.
»Was hat es mit dem Gerede über John Duvoisins Frau auf sich?«, fragte Ryan.
Benito antwortete nicht gleich, weil er in Gedanken bei der neuen Mrs Duvoisin verweilte. So sieht also ihre Familie aus. Wie abstoßend!
Als Ryan keine Ruhe gab, stellte er ihm eine Frage: »Sagt Ihnen der Name Charmaine Ryan etwas?«
Misstrauisch starrte Ryan den Priester an. Wieso kennt dieser Mann den Namen meiner Tochter? Ganz langsam dämmerte es ihm.
Der Priester lächelte. »Ganz recht, mein Freund. Charmaine ist John Duvoisins Frau. Ich würde sagen, Ihre Tochter hat glänzend für sich gesorgt. Sie dagegen eher nicht.« Benito ließ seine Worte einige Zeit wirken. »Auf Charmantes ist allgemein bekannt, dass Charmaine Duvoisins Vater, also Sie, seine Frau zu Tode geprügelt hat. John dürfte nicht gerade erfreut sein, wenn er Sie bei seiner Rückkehr hier vorfindet. Er kann ganz schön wütend werden, falls Sie das nicht schon mitbekommen haben.«
»Was soll das heißen: bei seiner Rückkehr ?«, zischte Ryan.
»Im Augenblick ist er noch einem anderen Mörder auf den Fersen«, erklärte der Priester. »Doch wenn er zurückkommt, geht es uns an den Kragen.«
John Ryan zog zwei reichlich zerknüllte Umschläge aus der Tasche. »Demnach sind die von ihm«, brummte er.
»Wo haben Sie die Briefe her?« Benitos Neugier war augenblicklich geweckt. Quer auf beiden Umschlägen prangte Charmaines Name.
»Vom Schiff. Ich habe gehört, wie Stuart Simons mit dem Kapitän gesprochen hat, den Namen meiner Tochter erwähnte, und dann habe ich gesehen, wie er diese Briefe und noch einen anderen Stapel übergeben hat. Später habe ich herausbekommen, wo sie lagen, und mich bedient. Ich kann nicht gut lesen, aber wie man den Namen meiner Tochter buchstabiert, weiß ich.«
Giovanni grinste. »Möchten Sie hören, was in den Briefen steht?« Ryan hätte das zu gern gewusst, aber als der Priester die Hand nach den Umschlägen ausstreckte, wollte er sie nicht herausrücken.
»Was haben Sie eigentlich auf dem Kerbholz«, fragte er stattdessen.
»Ich bin nicht bereit, darüber zu sprechen.«
»Nun gut. Dann sind Sie bestimmt auch nicht an den Briefen interessiert«, entgegnete Ryan freundlich.
Ah … Wie ich sehe, sprechen wir dieselbe Sprache , dachte Benito. »Erpressung«, sagte er dann. »Nur Erpressung.«
Ryan nickte zufrieden und schob dem Priester die Briefe hin. Giovanni öffnete sie und überflog das Geschriebene. Dann grinste er über das ganze Gesicht. Sie hatten noch jede Menge Zeit. John und Frederic Duvoisin suchten in New York nach Blackford und gingen inzwischen davon aus, dass er seinen Namen geändert hatte. Bis zu ihrer Rückkehr konnten Monate vergehen.
Am Tag darauf beschloss er, John Ryan in seine Fluchtpläne einzuweihen. Angesichts der Lage blieb ihm nichts anderes übrig. Vielleicht konnte ihm der Mann ja sogar nützlich sein. Später wollte er ihn sich dann vom Hals schaffen. Bei dem Gedanken grinste er. Auf dem offenen Meer dürfte das kein Problem sein.
In der zweiten Woche seiner Gefangenschaft lernte Ryan, wie man mit dem Löffel einen Tunnel grub, und am Ende der dritten Woche war der Durchbruch geschafft. Der einzig kritische Augenblick in der viermonatigen Bauzeit war eine Bemerkung von Buck: »Entweder wachse ich, oder die Decke wird niedriger.«
Ende Dezember wurde die Sache plötzlich ernst. Buck Mathers berichtete, dass Paul Duvoisin die Insel verlassen hatte, um nach seinem Vater und seinem Bruder zu suchen. Die Zeit war gekommen. Am siebenundzwanzigsten Dezember krochen John Ryan und Benito St. Giovanni durch den Tunnel in die Freiheit und verschwanden in der Nacht.
Das Glück war auf ihrer Seite. Der Mond war beinahe voll. Sein strahlendes Licht ließ die Sterne verblassen und warf dunkle Schatten auf den Weg. Die sieben Meilen bis zu Benitos kleinem Haus legten sie zu Fuß zurück und kamen kurz vor Mitternacht dort an. Im Gefängnis hatten sie jeden Schritt haargenau geplant, um unterwegs nicht reden zu müssen. Stattdessen spitzten sie die Ohren, damit ihnen auch nicht das leiseste
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