Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
musste, wie Anne Paul ungeniert berührte. »Nicht hier«, hörte sie ihn murmeln. »Es ist nicht weit bis zum Bootshaus.«
Geräuschlos trat Charmaine einen Schritt zurück. Mehr musste sie nicht sehen. Sie kannte das Ziel der beiden. Im ersten Moment wollte sie weinen, doch nicht aus Enttäuschung, sondern um ihre verlorenen Illusionen. Aber dann verging auch dieser Wunsch. Sie war jetzt erwachsen und bereit, kein naives Mädchen mehr.
Sie hob ihr Gesicht in die nächtliche Brise und genoss die Kühle auf ihrer Haut. Die schwülstige Szene hatte sie bereits vergessen. Sie wusste die Wahrheit über Paul. Hatte er es nicht selbst gesagt? Ich bin ein Schwerenöter, Charmaine … Es spielte keine Rolle mehr! Es war gleichgültig! Eine halbe Stunde verging, vielleicht mehr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort stand und diese neue Leichtigkeit genoss.
Zu guter Letzt kehrte sie in ihr Zimmer zurück und ging einige Male unruhig auf und ab. Sie war noch immer vollkommen wach. Die kühle Brise hatte auch den letzten Anflug von Schlaf aus ihrem Kopf geweht. Sie setzte sich wieder in den Sessel, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu schließen. Nicht jetzt … nicht in dieser Nacht … Mit einem Mal konnte sie die Enge des Raums nicht länger aushalten und sprang auf.
Da John nicht schlafen konnte, nahm er sich Geoffrey Elliots Vertragsentwürfe vor. Das lenkte ihn ab. Der Gedanke, dass Charmaine den Antrag seines Bruders annehmen könnte, trieb ihn zum Wahnsinn, je länger er darüber nachdachte.
Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Gleich darauf klopfte es erneut. Wer klopfte um diese Stunde? Der Ball war längst vorüber. Er warf die Papiere aufs Bett und öffnete, ohne daran zu denken, dass er nur eine Badehose trug. Wahrscheinlich war es Paul, der von seinem Techtelmechtel zurückkam.
Er staunte nicht schlecht, als er Charmaine erblickte. Doch ihr Gesichtsausdruck beunruhigte ihn. »Was ist passiert?«
Sie sah nur stumm zu ihm auf … und dann ging sie einen Schritt auf ihn zu und umschlang ihn. Als ihre Wange zart über seine nackte Brust glitt, war er augenblicklich erregt.
So standen sie eine ganze Zeit da, ohne sich zu rühren. Charmaine genoss es, seinen starken Körper in ihren Armen zu fühlen, und John war verunsichert und wusste nicht recht, was ihm diese plötzliche Zuneigung verschafft hatte. »Was ist passiert?«, fragte er noch einmal.
Charmaine war kaum mehr Herr ihrer Sinne. »Nichts.«
Welche Macht sie in sein Zimmer geführt hatte, wusste sie nicht. Absicht jedenfalls nicht. Sie wollte ihn nur sehen. Im Gegensatz zu seinem Bruder war John allein. Als er halbnackt unter der Tür stand, war ihre Vernunft dahin, und alles, was jetzt noch zählte, war ihre Lust.
John verspürte eine tiefe Erregung, als ihre Brüste sich gegen ihn pressten. War ihr eigentlich klar, welche Gefühle sie in ihm weckte, wenn ihre Hände seinen Rücken streichelten? Als sie den Kopf drehte und er plötzlich die Kühle der anderen Wange auf seiner Brust spürte, stöhnte er auf, und seine Hemmungen schwanden. Irgendwann ließ er jede Zurückhaltung fahren. Er zog sie an den Schultern ins Zimmer und drehte den Schlüssel um. Dann erkundeten seine Hände ihren Körper und streichelten gierig ihre Haut, bis er sie an den Hüften packte und sie mit einem Ruck gegen seinen erregten Körper presste.
Sie zuckte kurz, aber das Gefühl gefiel ihr. Zum ersten Mal sah sie ihm in die Augen. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und kam ihm auf halbem Weg entgegen. Hauchzart fuhren seine Lippen über ihr Gesicht, doch im nächsten Augenblick bemächtigte er sich ihres Mundes, und seine Zunge fand den Weg zu ihrem erotischen Spiel.
In einer Atempause entzog er sich ihren Armen. Charmaine sah zu, wie er die Papiere vom Bett sammelte und achtlos auf einem Sessel deponierte. Geh in dein Zimmer zurück!, schrie die Vernunft. Doch sie achtete nicht darauf und setzte sich mitten auf sein Bett. Die frühere Charmaine hatte streng auf Richtig oder Falsch geachtet, aber diese Charmaine wollte es wissen, wollte fühlen, berühren und eins werden mit John. Zitternd lehnte sie sich in die Kissen zurück und folgte mit bangem Blick jeder seiner Bewegungen.
John gaben diese Momente Zeit, damit seine Leidenschaft ein wenig abkühlte. Sie war hier in seinem Bett, aber war sie auch bereit für die Liebe? Wenn er sie nicht völlig falsch einschätzte, so war dies ihr erstes Mal. Er wollte jedenfalls nichts
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