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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Geschenke, die er von den Gemeindemitgliedern bekommen hat: ein handgeknüpfter Afghan, ein hölzerner Bibelhalter, eine gerahmte Kinderzeichnung. All diese Menschen haben an ihn geglaubt. Ich war nicht die einzige, die auf ihn hereingefallen ist.
    Ich weiß nicht, worauf ich warte. Aber während ich dort stehe, muß ich an den letzten Tag denken, bevor Nathaniel aufhörte zu sprechen, das letzte Mal, daß wir alle gemeinsam in der Messe waren. Anschließend hatte es einen Empfang für zwei Geistliche gegeben, die gerade zu Besuch waren. Am Buffet hing ein großes Transparent, das ihnen eine gute Rückreise wünschte. Ich erinnere mich, daß der Kaffee, den es an dem Morgen gab, ein Haselnußaroma hatte. Daß die Donuts aufgegessen waren, obwohl Nathaniel doch einen haben wollte. Ich weiß noch, daß ich mich mit einem Ehepaar unterhielt, das ich seit einigen Monaten nicht mehr gesehen hatte, und mitbekam, wie die anderen Kinder hinter Pater Szyszynski her nach unten gingen, damit er ihnen wie jede Woche eine Geschichte erzählte. »Geh mit, Nathaniel«, hatte ich gesagt. Er hatte sich hinter mir versteckt, an meine Beine geklammert. Ich mußte ihn fast wegschieben, damit er mit den anderen mitging.
    Ich habe ihn dorthin gedrängt.
    Ãœber eine Stunde lang stehe ich auf der kleinen Mauer, bis der Priester in sein Wohnzimmer kommt. Er setzt sich auf das Sofa, trinkt einen Schluck Tee und fängt an zu lesen. Er weiß nicht, daß ich ihn beobachte.

    Wie Patrick versprochen hat, sind es zehn Fotos – jedes so groß wie die Bilder von Baseballspielern, und auf jedem ist ein anderer »Priester« zu sehen. Caleb sieht sich eins an. »Pädophilenklub San Diego«, murmelt er. »Fehlen nur noch die Autogrammadressen.«
    Nathaniel und ich kommen ins Zimmer. »Da«, sage ich munter, »sieh mal, wer gekommen ist.«
    Patrick steht auf. »Hallo Krauter. Weißt du noch, wie wir uns neulich unterhalten haben?« Nathaniel nickt. »Unterhältst du dich heute noch mal mit mir?«
    Nathaniel ist schon neugierig geworden. Er zieht mich zu der Couch hin, auf der die Fotos liegen. Patrick klopft auf das Kissen neben sich, und Nathaniel klettert sofort hinauf. Caleb und ich setzen uns rechts und links von ihnen in zwei Polstersessel. Wie förmlich das aussieht , denke ich.
    Â»Ich hab dir ein paar Bilder mitgebracht, wie versprochen.« Patrick zieht die restlichen aus dem Umschlag und breitet alle auf dem Couchtisch aus, als wollte er Solitär spielen. Er sieht zunächst mich an, dann Caleb – eine stumme Mahnung, daß er jetzt das Sagen hat. »Krauter, du weißt doch noch, daß du mir erzählt hast, daß jemand dir weh getan, nicht?«
    Ja .
    Â»Und du hast gesagt, du wüßtest, wer es war?«
    Wieder ein Nicken, aber etwas langsamer.
    Â»Ich zeige dir jetzt ein paar Bilder, und wenn einer von den Leuten darauf derjenige ist, der dir weh getan hat, dann möchte ich, daß du auf das Foto zeigst. Aber wenn die Person, die dir weh getan hat, nicht auf einem der Bilder ist, dann schüttelst du einfach nur den Kopf, damit ich weiß, daß sie nicht dabei ist.«
    Patrick hat das perfekt formuliert – eine offene, rechtlich unanfechtbare Aufforderung, eine Aussage zu machen. Eine Bitte, die Nathaniel nicht suggeriert, daß es eine richtige Antwort gibt.
    Obwohl es eine gibt.
    Wir alle schauen zu, wie Nathaniels Augen, dunkel und unergründlich, von einem Gesicht zum anderen wandern. Er sitzt auf seinen Händen. Seine Füße reichen noch nicht ganz bis zum Boden.
    Â»Hast du verstanden, was ich von dir möchte, Nathaniel?« fragt Patrick.
    Nathaniel nickt. Er zieht eine Hand unter seinem Oberschenkel hervor.
    Seine Hand verweilt nacheinander über jeder Karte, wie eine Libelle, die über einem Bach schwebt. Sie senkt sich, läßt sich aber nicht nieder. Seine Finger gleiten über Szyszynskis Gesicht, dann weiter. Ich versuche, ihn mit meinen Augen zur Umkehr zu bewegen. »Patrick«, platzt es aus mir heraus. »Frage ihn, ob er jemanden erkennt.«
    Patrick lächelt verkrampft. Mit zusammengebissenen Zähnen sagt er: »Nina, du weißt, daß ich das nicht tun kann.« Dann zu Nathaniel: »Was meinst du, Krauter? Siehst du die Person, die dir weh getan hat?«
    Nathaniels Finger fährt über den Rand von Szyszynskis Karte. Er zögert einen Moment, bewegt sich dann

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