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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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den Rand der Kirchenbank, daß es aussieht, als würde das Holz gleich splittern. Der Priester, der mir die Kommunion gegeben hat, flüstert einem anderen Geistlichen etwas zu, der sofort zu der Frau geht, um sie zu trösten. Und in dem Moment begreife ich:
    Auch Pater Szyszynski war jemandes Sohn.
    Meine Brust füllt sich mit Blei, und die Beine geben unter mir nach. Ich kann mir einreden, daß ich Nathaniel gerächt habe; ich kann behaupten, daß ich moralisch im Recht war – aber ich kann nicht die Wahrheit verleugnen, daß eine andere Mutter durch mich ihr Kind verloren hat.
    Ist es richtig, einen Kreislauf des Schmerzes zu zerschlagen, wenn dadurch nur ein neuer in Gang gesetzt wird?
    Plötzlich dreht sich die Kirche um mich herum, und die Blumen greifen nach meinen Knöcheln. Ein Gesicht, so breit wie der Mond, ragt vor mir auf und sagt Worte, die ich nicht verstehe. Wenn ich ohnmächtig werde, sehen sie, wer ich bin. Sie werden mich in Stücke reißen. Ich nehme alle Kraft zusammen, die ich noch habe, um die Leute vor mir beiseite zu schieben, den Gang hinunterzueilen, die Doppeltür von St. Anne’s aufzustoßen und ins Freie zu laufen.

    Soweit Nathaniel zurückdenken kann, gilt Mason als sein Hund, obwohl der Golden Retriever schon zehn Monate vor Nathaniels Geburt in die Familie kam. Und das Komische daran ist, wenn es andersherum gewesen wäre, wenn Nathaniel zuerst dagewesen wäre, dann hätte er sich von seinen Eltern eine Katze gewünscht. Er mag das Geräusch, das sie dicht an seinem Ohr machen, so daß auch seine Haut summt. Er mag es, daß sie nicht baden müssen, und er bewundert sie dafür, daß sie immer auf allen vier Pfoten landen.
    Zu Weihnachten hatte er sich ein Kätzchen gewünscht, doch obwohl Santa Claus ihm ansonsten alles gebracht hatte, war keine Katze dabei. Wegen Mason, ganz klar. Weiß der Himmel , sagte Nathaniels Mutter, was dieser wilde Hund mit einem Kätzchen anstellen würde .
    Und deshalb fiel Nathaniel an dem Tag, als er im Kellergeschoß der Kirche herumschlenderte und sich das Drachenbild in Vater Glens Büro ansah, als allererstes die Katze auf. Sie war schwarz, hatte drei weiße Pfoten, und ihr Schwanz pendelte hin und her wie die Kobra vor einem Schlangenbeschwörer. Und ihr Gesicht war nicht größer als Nathaniels Handfläche.
    Â»Ah«, sagte der Priester. »Esme gefällt dir.« Er kraulte die Katze zwischen den Ohren. »Feines Mädchen.« Dann nahm er die Katze auf den Arm und setzte sich auf die Couch unter das Bild mit dem Drachen. Nathaniel fand das sehr mutig von ihm. Er selbst hätte Angst gehabt, daß das Ungeheuer plötzlich zum Leben erwacht und ihn mit Haut und Haaren verschlingt. »Möchtest du sie vielleicht streicheln?«
    Nathaniel nickte nur, weil er vor Freude kein Wort herausbrachte. Er näherte sich der Couch, dem kleinen Fellknäuel im Schoß des Priesters. Er legte die Hand auf den Rücken des Kätzchens, spürte die Wärme und die feinen Knochen und den Herzschlag. »Hallo«, flüsterte er. »Hallo Esme.«
    Ihr Schwanz kitzelte Nathaniel unterm Kinn, und er lachte. Auch der Priester lachte und legte Nathaniel eine Hand in den Nacken. Das war die gleiche Stelle, wo ich die Katze streichelte, dachte Nathaniel und wich einen Schritt zurück.
    Â»Sie mag dich«, sagte der Priester.
    Â»Wirklich?«
    Â»Aber ja. Bei den meisten Kindern ist sie viel ängstlicher.«
    Nathaniel wäre vor Stolz beinahe geplatzt. Wieder kraulte er die Ohren der Katze, und er hätte schwören können, daß sie lächelte.
    Â»So ist’s richtig«, ermunterte der Priester ihn. »Nicht aufhören.«

    Quentin Brown sitzt an Ninas Schreibtisch im Büro der Bezirksstaatsanwaltschaft und überlegt, was hier fehlt. Aus Platzmangel ist ihm ihr Büro zugeteilt worden, und ihm ist die Ironie des Schicksals durchaus bewußt, daß er die Verurteilung dieser Frau just in dem Sessel anstrengen wird, in dem sie einst saß. Bisher hat er feststellen können, daß Nina Frost eine Ordnungsfanatikerin ist – sogar ihre Büroklammern sind in kleinen Schälchen nach Größe sortiert. Ihre Akten sind alphabetisch geordnet. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sie ihre Tat vorbereitet hat. Hier hätte Gott weiß wer arbeiten können , denkt Quentin, und genau da liegt das Problem

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