Die Macht des Zweifels
und daà Gott besonders auf ihn aufpaÃte â na ja, dagegen hätten seine Eltern bestimmt nichts, da war sich Nathaniel sicher. Er widmete sich wieder der trägen Katze, und genau in dem Moment hörte er es â nur ein Atemhauch â, aber Esme â oder war es gar nicht Esme â seufzte seinen Namen.
Als ich zum zweiten Mal von einem Wachmann geholt werde, ist es Sonntag nachmittag. Er bringt mich nach oben zu den Besprechungszimmern, wo die Häftlinge sich ungestört mit ihren Anwälten unterhalten können. Vielleicht will Fisher sich erkundigen, wie es mir geht. Vielleicht will er über die Anhörung am nächsten Tag sprechen.
Aber als die Tür geöffnet wird, wartet zu meiner Verblüffung Patrick auf mich. Auf dem Tisch stehen sechs Schachteln mit chinesischem Essen. »Ich hab alles besorgt, was du gern iÃt«, sagt er. »General-Tso-Hühnchen, vegetarisches Lo Mein, Rindfleisch mit Brokkoli, Tung-Ting-Krabben und Dampfknödel. Ach ja, und das Zeug, das wie Gummi schmeckt.«
»Sojabohnenquark.« Ich hebe das Kinn ein wenig, provokant. »Ich dachte, du wolltest nicht mit mir sprechen.«
»Will ich ja auch nicht. Ich will mit dir essen.«
»Bist du sicher? Stell dir bloà vor, was ich alles sagen könnte, während du gerade den Mund voll hast â«
»Nina.« Patricks blaue Augen wirken farblos, müde. »Sei still.«
Doch im selben Moment streckt er mir seine Hand entgegen. Sie liegt geöffnet auf dem Tisch und ist ein verlockenderes Angebot als alles andere vor meinen Augen.
Ich setze mich ihm gegenüber und ergreife sie. Sofort drückt Patrick meine Hand, und das ist mehr, als ich ertragen kann. Ich lege den Kopf auf den alten, verkratzten Tisch, und Patrick streichelt mein Haar. »Ich hab deinen Glückskeks präpariert«, gesteht er. »Da steht, daà du freigesprochen wirst.«
»Und was steht in deinem?«
»Daà du freigesprochen wirst.« Patrick lächelt. »Ich wuÃte ja nicht, welchen du nimmst.«
Ich schlieÃe die Augen und lasse mich einfach gehen. »Ist ja gut«, sagt Patrick, und ich glaube ihm. Ich lege seine flache Hand auf mein glühendes Gesicht, als wäre Scham etwas, das er mitnehmen und drauÃen ganz weit wegwerfen könnte.
Wenn man vom Münztelefon im Gefängnis aus anruft, meldet sich alle dreiÃig Sekunden eine Stimme und setzt die Person am anderen Ende davon in Kenntnis, daà dieser Anruf aus dem Bezirksgefängnis in Alfred kommt. Mit den fünfzig Cent, die Patrick mir heute nachmittag gegeben hat, mache ich auf dem Weg zur Dusche einen Anruf. »Hören Sie«, sage ich, sobald ich Fisher zu Hause erreicht habe. »Sie wollten doch von mir hören, was sie Montag morgen sagen sollen.«
»Nina?« Im Hintergrund höre ich eine Frau lachen, das Klirren von Gläsern oder Porzellan.
»Ich muà mit Ihnen reden.«
»Sie stören uns gerade beim Essen.«
»Ach Gott, Fisher.« Ich drehe mich weg, als Männer im Gänsemarsch vom Hof hereinkommen. »Ich rufe Sie natürlich gern ein anderes Mal an, wenn es Ihnen besser paÃt, ich hab ja schlieÃlich dauernd Gelegenheit dazu, sagen wir in drei oder vier Tagen?«
Ich höre das Hintergrundgeräusch leiser werden, das Klicken einer Tür. »Also gut. Worum gehtâs?«
»Nathaniel spricht nicht. Sie müssen mich hier rausholen, ehe er völlig zusammenbricht.«
»Er spricht nicht? Schon wieder?«
»Caleb hat ihn gestern hergebracht. Und ⦠er teilte sich wieder in Gebärdensprache mit.«
Fisher denkt nach. »Wenn wir Caleb und Nathaniels Psychiaterin herholen und beide aussagen â«
»Caleb müssen Sie vorladen lassen.«
Falls ihn das erstaunt, läÃt er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Nina, Tatsache ist, Sie haben Mist gebaut. Ich werde versuchen, Sie rauszuholen. Ich halte es zwar nach wie vor für unwahrscheinlich. Aber wenn Sie wollen, daà ich es versuche, müssen Sie sich eine Woche gedulden.«
»Eine Woche?« Ich werde lauter. »Fisher, es geht hier um meinen Sohn. Wissen Sie, wie sehr sich Nathaniels Zustand innerhalb einer Woche verschlimmern kann?«
»Darauf zähle ich ja.«
Eine Stimme schaltet sich ein. »Dieser Anruf erfolgt vom Bezirksgefängnis in Alfred. Falls Sie das Gespräch fortsetzen wollen, werfen Sie bitte weitere
Weitere Kostenlose Bücher